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Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke

möchte ich wohl für nichts stehen, denn sie raufen sich dann und treiben allerhand Unfug im Gehirn.

Wie schön ist die vierte Lebensperiode, die wir mit dem vierten Glas beginnen wollen! Du bist vierzehn Jahre alt, o Seele! Aber was ist mit dir vorgegangen in der kurzen Zeit? Du spielst keine Knabenspiele mehr, Soldaten und alles dieses Gezeuge liegt hinter dir, und du scheinst mir viel zu lesen. Du bist hinter Goethe und Schiller geraten und verschlingst sie, ohne alles zu verstehen; oder wie? du verstehst jetzt schon alles? du willst meinen, du könnest Liebe verstehen, weil du im letzten Sonntagsklub Elvire hinter der Kommode im Dunkeln geküßt und Emmas Zärtlichkeit zurückgewiesen hast? Barbar! ahnest du nicht, daß dieses dreizehenjährige Herz auch den Werther und sogar etwas von Clauren[1] gelesen haben kann und Liebe für dich fühlt? Aber die Szene ändert sich. Sei mir gegrüßt, du Felsenthal der Alb! du blauer Strom, an welchem ich drei lange Jahre hauste. Die Jahre lebte, die den Knaben zum Jüngling machen. Sei mir gegrüßt, du klösterliches Dach, du Kreuzgang mit den Bildern verstorbener Äbte, du Kirche mit dem wundervollen Hochaltar, ihr Bilder, alle in schönes Gold des Morgenrots getaucht! Seid mir gegrüßt, ihr Schlösser auf den Felsen, ihr Höhlen, ihr Thäler, ihr grünen Wälder. Jene Thäler, jene Klostermauern waren das enge Nest, das uns aufzog, bis wir flügge waren, und ihrer rauhen Albluft danken wir es, daß wir nicht verweichlichten.

Ich komme ans fünfte Glas, ins fünfte Sekulum unseres Lebens[WS 1]. Ich schlürfe euch ein, lieblichen Erinnerungen, wie ich dies Glas edeln Rheinweins schlürfe; ihr duftet auf in herrlicher Schöne, Jahre meiner Jugend, wie das Aroma aufsteigt aus dem Römer; mein Auge wird wacker, o Seele, denn sie sind um mich, die Freunde meiner Jugend! Wie soll ich dich nennen, du hohes, edles, rohes, barbarisches, liebliches, unharmonisches, gesangvolles, zurückstoßendes und doch so mild erquickendes Lebes der Burschenjahre? Wie soll ich euch beschreiben, ihr goldenen [21] Stunden, ihr Feierklänge der Bruderliebe? Welche Töne soll ich euch geben, um mich verständlich zu machen? Welche Farben dir, du nie begriffenes Chaos! Ich soll dich beschreiben? Nie! Deine lächerliche Außenseite liegt offen, die sieht der Laie, die kann man ihm beschreiben, aber deinen innern, lieblichen Schmelz kennt nur der Bergmann, der singend mit seinen Brüdern hinabfuhr in den tiefen Schacht. Gold bringt er herauf, reines, lauteres Gold, viel oder wenig, gilt gleich viel. Aber dies ist nicht seine ganze Ausbeute. Was er geschaut, mag er dem Laien nicht beschreiben, es wäre allzu sonderbar und doch zu köstlich für sein Ohr. Es leben Geister in der Tiefe, die sonst kein Ohr erfaßt, kein Auge schaut. Musik ertönt in jenen Hallen, die jedem nüchternen Ohr leer und bedeutungslos ertönt. Doch dem, der mit gefühlt und mit gesungen, gibt sie eine eigene Weihe, wenn er auch über das Loch in seiner Mütze lächelt, das er als Symbolum zurückgebracht. Alter Großvater! jetzt weiß ich, was du vornahmst, wenn „der Herr seinen Schalttag feierte“. Auch du hattest deine trauten Gesellen seit den Tagen deiner Jugend, und das Wasser stand dir in den grauen Wimpern, wenn du einen beisetztest im Stammbuch. Sie leben!

Wirf die Flasche weg, Mensch, stich eine neue an zu neuer Freude. Das sechste! Wer kann dich berechnen, o Liebe?

Es ging uns, wie es so manchem Erdensohn ergeht. Wir lasen von Liebe und glaubten zu lieben. Das Wunderbarste und doch Natürlichste an der Sache war, daß die Perioden oder Grade dieser Art Liebe sich nach unserer Lektüre richteten. Haben wir nicht Vergißmeinnicht und Ranunkeln gebrochen und des Doktors Tochter in G. verschämt überreicht und uns einige Thränen ausgepreßt, weil wir lasen: „Das Schönste sucht er auf den Fluren, womit er seine Liebe schmückt“ – „aus seinen Augen brechen Thränen?“ Haben wir nicht à la Wilhelm Meister geliebt, d. h. wir wußten nicht mehr, war es Emmeline oder Camilla, die Zarte, oder gar Ottilie? Haben nicht alle drei in zierlichen Schlafmützen hinter den Jalousien hervorgeschaut, wenn wir Ständchen brachten im Winter und die Guitarre weidlich schlugen, obgleich uns der Frost die Finger krumm bog? Und nachher,


  1. Heinrich Clauren, Pseudonym für Karl Gottlieb Heun (1771–1854), von Hauff im „Mann im Monde“ verspottet, der sentimental-lüsterne Romanschriftsteller.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Zeitalter, Alterstufe
Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke. Bibliographisches Institut, Leipzig, Wien 1891–1909, Seite 20–21. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Wilhelm_Hauff_Bd_2_012.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)