Seite:De Wilhelm Hauff Bd 2 084.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke

Er las aufmerksam beide Inschriften und sprach: „Die letzten Tage haben mich gelehrt, wie unsicher das Glück, wie vergänglich der Reichtum ist; sie haben mich aber auch gelehrt, daß ein unzerstörbares Gut in der Brust des Tapfern wohnt, die Ehre, und daß der leuchtende Stern des Ruhmes nicht mit dem Glück zugleich vergeht. Und sollte ich einer Krone entsagen, der Würfel liegt – Ehre und Ruhm, ich wähle euch!“

Er setzte seine Hand auf das Kistchen, das er erwählt hatte; aber der Sultan befahl ihm, einzuhalten; er winkte Labakan, gleichfalls vor seinen Tisch zu treten, und auch dieser legte seine Hand auf sein Kistchen.

Der Sultan aber ließ sich ein Becken mit Wasser von dem heiligen Brunnen Zemzem[1] in Mekka bringen, wusch seine Hände zum Gebet, wandte sein Gesicht nach Osten, warf sich nieder und betete: „Gott meiner Väter! Der du seit Jahrhunderten unsern Stamm rein und unverfälscht bewahrtest, gib nicht zu, daß ein Unwürdiger den Namen der Abassiden schände, sei mit deinem Schutze meinem echten Sohne nahe in dieser Stunde der Prüfung!“

Der Sultan erhob sich und bestieg seinen Thron wieder; allgemeine Erwartung fesselte die Anwesenden: man wagte kaum zu atmen; man hätte ein Mäuschen über den Saal gehen hören, so still und gespannt waren alle; die hintersten machten lange Hälse, um über die vordern nach den Kistchen sehen zu können. Jetzt sprach der Sultan: „Öffnet die Kistchen!“ und diese, die vorher keine Gewalt zu öffnen vermochte, sprangen von selbst auf.

In dem Kistchen, das Omar gewählt hatte, lag auf einem samtenen Kissen eine kleine goldene Krone und ein Zepter; in Labakans Kistchen – eine große Nadel und ein wenig Zwirn. Der Sultan befahl den beiden, ihre Kästchen vor ihn zu bringen. Er nahm das Krönchen von dem Kissen in seine Hand, und wunderbar war es anzusehen: wie er es nahm, wurde es größer und größer, bis es die Größe einer rechten Krone erreicht hatte. Er [165] setzte die Krone seinem Sohn Omar, der vor ihm kniete, auf das Haupt, küßte ihn auf die Stirne und hieß ihn zu seiner Rechten sich niedersetzen. Zu Labakan aber wandte er sich und sprach: „Es ist ein altes Sprüchwort: Der Schuster bleibe bei seinem Leist! Es scheint, als solltest du bei der Nadel bleiben. Zwar hast du meine Gnade nicht verdient; aber es hat jemand für dich gebeten, dem ich heute nichts abschlagen kann; drum schenke ich dir dein armseliges Leben; aber wenn ich dir guten Rates bin, so beeile dich, daß du aus meinem Land kommst!“

Beschämt, vernichtet, wie er war, vermochte der arme Schneidergeselle nichts zu erwidern; er warf sich vor dem Prinzen nieder, und Thränen drangen ihm aus den Augen: „Könnt Ihr mir vergeben, Prinz?“ sagte er.

„Treue gegen den Freund, Großmut gegen den Feind! ist des Abassiden[2] Stolz“, antwortete der Prinz, indem er ihn aufhob, „gehe hin im Frieden.“ – „O du mein echter Sohn!“ rief gerührt der alte Sultan und sank an die Brust des Sohnes; die Emiren und Bassa und alle Großen des Reiches standen auf von ihren Sitzen und riefen: „Heil dem neuen Königssohn!“ und unter dem allgemeinen Jubel schlich sich Labakan, sein Kistchen unter dem Arm, aus dem Saal.

Er ging hinunter in die Ställe des Sultans, zäumte sein Roß Marva auf und ritt zum Thore hinaus, Alessandria zu. Sein ganzes Prinzenleben kam ihm wie ein Traum vor, und nur das prachtvolle Kistchen, reich mit Perlen und Diamanten geschmückt, erinnerte ihn, daß er doch nicht geträumt habe.

Als er endlich wieder nach Alessandria kam, ritt er vor das Haus seines alten Meisters, stieg ab, band sein Rößlein an die Thüre und trat in die Werkstatt. Der Meister, der ihn nicht gleich kannte, machte ein großes Wesen und fragte, was ihm zu Dienst stehe; als er aber den Gast näher ansah und seinen alten Labakan erkannte, rief er seine Gesellen und Lehrlinge herbei, und alle


  1. Ein zur Kaaba in Mekka gehöriger Brunnen, der von Gott für die fliehende Hagar und den Ismael geschaffen sein soll. Mohammed verhieß dem daraus Trinkenden Vergebung der Sünden.
  2. Die Abbassiden, ein orientalisches Fürstengeschlecht, das seinen Ursprung von Abd-allah, dem ältesten Sone von Mohammeds Oheim Abbâs ableitete und um 750 auf den Thron der Kalifen von Bagdad kam, den es bis 1258 innehatte.
Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke. Bibliographisches Institut, Leipzig, Wien 1891–1909, Seite 164–165. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Wilhelm_Hauff_Bd_2_084.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)