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Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke

der Menschen, in alle ihre Neigungen und Triebe hineinblicken lassen, daß wir uns stille gestehen mußten, nirgends so tiefgedachte, so überraschende Schlüsse gehört oder gelesen zu haben.

Von diesem Abend an ging uns ein neues Leben in den drei Reichskronen auf. Es war, als habe die Freude selbst ihren Einzug bei uns gehalten, und feiere jetzt ihre heiligsten Festtage; Gäste, die sich nie hätten einfallen lassen, länger als eine Nacht hier zu bleiben, schlossen sich an den immer größer werdenden Zirkel an und vergaßen, daß sie unter Menschen sich befinden, die der Zufall aus allen Weltgegenden zusammengeschneit hatte. Und Natas, dieses seltsame Wesen, war die Seele des Ganzen. Er war es, der sich, sobald er sich nur erst mit seinen nächsten Tischnachbarn bekannt gemacht hatte, zum Maître de plaisir hergab. Er veranstaltete Feste, Ausflüge in die herrliche Gegend und erwarb sich den innigen Dank eines jeden. Hatte er aber schon durch die sinnreiche Auswahl des Vergnügens sich alle Herzen gewonnen, so war dies noch mehr der Fall, wenn er die Konversation führte.

Jenes ergötzliche Märchen von dem Hörnchen des Oberon schien ins Leben getreten zu sein; denn Natas durfte nur die Lippen öffnen, so fühlte jeder zuerst die lieblichsten Saiten seines Herzens angeschlagen, auf leichten Schwingen schwirrte dann das Gespräch um die Tafel, mutwilliger wurden die Scherze, kühner die Blicke der Männer, schalkhafter das Kichern der Damen, und endlich rauschte die Rede in so fessellosen Strömen, daß man nachher wenig mehr davon wußte, als daß man sich „göttlich“ amüsiert habe.

Und dennoch war der Zauberer, der diese Lust heraufbeschwor, weit entfernt, je ins Rohe, Gemeine hinüberzuspielen. Er griff irgend einen Gegenstand, eine Tagesneuigkeit auf, erzählte Anekdoten, spielte das Gespräch geschickt weiter, wußte jedem seine tiefste Eigentümlichkeit zu entlocken und ergötzte durch seinen lebhaften Witz, durch seine warme Darstellung, die durch alle Schattierungen von dem tiefsten Gefühl der Wehmut bis hinauf an jene Ausbrüche der Laune streifte, welche in dem sinnlichsten, reizendsten Kostüm auf der feinen Grenze des Anstandes gaukeln.

[191] Manchmal schien es zwar, es möchte weniger gefährlich gewesen sein, wenn er dem Heiligen, das er antastete, geradezu Hohn gesprochen, das Zarte, das er benagte, geradezu zerrissen hätte; jener zarte, geheimnisvolle Schleier, mit welchem er dies oder jenes verhüllte, reizte nur zu dem lüsternen Gedanken, tiefer zu blicken, und das üppige Spiel der Phantasie gewann in manchem Köpfchen unsrer schönen Damen nur noch mehr Raum; aber man konnte ihm nicht zürnen, nicht widersprechen; seine glänzenden Eigenschaften rissen unwiderstehlich hin, sie umhüllten die Vernunft mit süßem Zauber, und seine kühnen Hypothesen schlichen sich als Wahrheit in das unbewachte Herz.




Zweites Kapitel.
Der schauerliche Abend.

So hatte der geniale Fremdling mich und noch zwölf bis fünfzehn Herren und Damen in einen tollen Strudel der Freude gerissen. Beinahe alle waren ohne Zweck in diesem Haus, und doch wagte keiner, den Gedanken an die Abreise sich auch nur entfernt vorzustellen. Im Gegenteil, wenn wir morgens lange ausgeschlafen, mittags lange getafelt, abends lange gespielt und nachts lange getrunken, geschwatzt und gelacht hatten, schien der Zauber, der uns an dieses Haus band, nur eine neue Kette um den Fuß geschlungen zu haben.

Doch es sollte anders werden, vielleicht zu unserem Heil. An dem sechsten Tage unseres Freudenreiches, einem Sonntag, war unser Herr von Natas im ganzen Gasthof nicht zu finden. Die Kellner entschuldigten ihn mit einer kleinen Reise; er werde vor Sonnenuntergang nicht kommen, aber zum Thee, zur Nachttafel unfehlbar da sein.

Wir waren schon so an den Unentbehrlichen gewöhnt, daß uns diese Nachricht ganz betreten machte, es war uns, als würden uns die Flügel zusammengebunden, und man befehle uns zu fliegen.

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke. Bibliographisches Institut, Leipzig, Wien 1891–1909, Seite 190–191. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Wilhelm_Hauff_Bd_2_097.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)