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Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke

zurückrief, sagte mir immer, ich solle suchen, von jeder Wissenschaft einen kleinen Hieb zu bekommen, mich aber so sehr als möglich in jenen Künsten zu vervollkommnen, die heutzutage einem Mann von Bildung unentbehrlich sind.

Bei Gelegenheit eine Stelle aus einem Dichter zu citieren, über die Schönheit eines Gemäldes kunstgerecht mitzusprechen, eine Statue nach allen Regeln für erbärmlich zu erklären, für die Männer einige theologische Litteratur, einige juridische Phrasen, einige neue medizinische Entdeckungen, einige exorbitante philosophische Behauptungen in petto zu haben, hielt ich für unumgänglich notwendig, um mich mit Anstand in der modernen Welt bewegen zu können, und ohne mir selbst ein Kompliment machen zu wollen, darf ich sagen, ich habe in den paar Monaten in …en hinlänglich gelernt.

Ich habe mir nach dem Beispiel meiner großen Vorbilder im Memoirenschreiben vorgenommen, auch die geringfügigsten Ereignisse aufzuführen, wenn sie lehrreich oder merkwürdig sind, wenn sie Stoff zum Nachdenken oder zum Lachen enthalten. Ich darf daher nicht versäumen, meine Rache am Doktor Schnatterer zu erzählen.

Besagter Doktor hatte die löbliche Gewohnheit, Sonntag nachmittags mit mehreren andern Professoren in ein Wirtshaus ein halbes Stündchen vor der Stadt zu spazieren. Dort pflegte man, um die steif gesessenen Glieder wieder auszurenken, Kegel zu schieben und allerlei sonstigen Kurzweil zu treiben, wie es sich für ehrbare Männer geziemt; man spielte wohl auch bei verschlossenen Thüren ein Whistchen oder Pikett und trank manchmal ein Gläschen über Durst, was wenigstens die böse Welt daraus ersehen wollte, daß sich die Herren abends in der Chaise des Wirtes zur Stadt bringen ließen.

Der ehrwürdige Theologe aber pflegte immer lang vor Sonnenuntergang heimzukehren, man sagt, weil die Frau Doktorin ihm keine längere Frist erlaubt hatte; er ging dann bedächtlichen Schrittes seinen Weg, vermied aber die breite Chaussee und schlug den Wiesenpfad ein, der dreißig Schritte seitwärts neben jener hinlief; der Grund war, weil der breite Weg am schönen Sonntag [237] Abend mit Fußgängern besäet war, der Doktor aber die höhere Röte seines Gesichtes und den etwas unsichern Gang nicht den Augen der Welt zeigen wollte.

So erklärten sich die Bösen den einsamen Gang Schnatterers; die Frommen aber blieben stehen, schauten ihm nach und sprachen: „Siehe, er geht nicht auf dem breiten Weg der Gottlosen, der fromme Herr Doktor, sondern den schmalen Pfad, welcher zum Leben führt.“

Auf diese Gewohnheit des Doktors hatte ich meinen Racheplan gebaut. Ich paßte ihm an einem schönen Sonntag Abend, der alle Welt ins Freie gelockt hatte, auf, und er trat noch bei guter Tageszeit aus dem Wirtshaus. Mit demütigem Bückling nahte ich mich ihm und fragte, ob ich ihn auf seinem Heimweg begleiten dürfe, der Abend scheine mir in seiner gelehrten Nähe noch einmal so schön.

Der Herr Doktor schien einen kordialen Hieb zu haben; er legte zutraulich meinen Arm in den seinigen und begann mit mir über die Tiefen der Wissenschaften zu perorieren. Aber ich schlug sein Auge mit Blindheit, und indem ich als ehrbarer Studiosus neben ihm zu gehen schien, verwandelte ich meine Gestalt und erschien den verwunderten Blicken der Spaziergänger als die „schöne Luisel“, die berüchtigste Dirne der Stadt. – Ach! daß Hogarth[1] an jenem Abend unter den spazierengehenden Christen auf dem breiten Wege gewandelt wäre! Welch herrliche Originale für frommen Unwillen, starres Erstaunen, hämische Schadenfreude hätte er in sein Skizzenbuch niederlegen können.

Die vordersten blieben stehen, als sie das seltsame Paar auf dem Wiesenpfad wandeln sahen, sie kehrten um, uns zu folgen, und rissen die Nachkommenden mit. Wie ein ungeheurer Strom wälzte sich uns die erstaunte Menge nach, wie ein Lauffeuer flog das unglaubliche Gerücht: „Der Doktor Schnatterer mit der schönen Luisel!“ von Mund zu Mund der Stadt zu.


  1. William Hogarth (1697–1764), engl. Zeichner, Maler und Kupferstecher, besonders bekannt durch seine humoristischen und satirischen Genrebilder, in denen er Albernheiten und Laster des gesellschaftlichen Lebens verspottet; so in den Bildern: das Leben einer Buhlerin, das Leben eines Liederlichen u. s. w.
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Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke. Bibliographisches Institut, Leipzig, Wien 1891–1909, Seite 236–237. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Wilhelm_Hauff_Bd_2_120.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)