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Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke

auf unterhaltende Weise einzuschläfern. Brechen wir auf; ich bin neugierig, ob wohl viele Bekannte aus der Stadt hier sind?“

„Wie?“ rief der junge Deutsche nicht ohne Überraschung, „Sie wollen also nicht hören, wie ich mich in Berlin bei den Herren vom Mühlendamm zu einem Elegant perfektionierte? Sie wollen nicht hören, wie ich einen Liebeshandel mit einer Prinzessin hatte, und auf welche elendigliche Weise ich endlich verstorben bin? O, meine Herren, meine Geschichte fängt jetzt erst an, interessant zu werden.“

„Sie können recht haben“, erwiderte ihm der Lord mit vornehmem Lächeln, „aber wir finden, daß uns die Abwechslung mehr Freude macht. Begleiten Sie uns, vielleicht sehen wir einige Figuren aus Ihrem Vaterland, die Sie uns zeigen können.“

„Nein, wirklich! Ich bin gespannt auf Ihre Geschichte“, sagte der Marquis lachend, „aber nur jetzt nicht. Es ist jetzt die Zeit, wo die Welt promeniert, und um keinen Preis, selbst nicht um Ihre interessante Erzählung möchte ich diese Stunde versäumen. Gehen wir.“

„Gut“, antwortete der deutsche Stutzer resigniert und ohne beleidigt zu scheinen. „Ich begleite Sie; auch so ist mir Ihre werte Gesellschaft sehr angenehm, denn es ist für einen Deutschen immer eine große Ehre, sich an einen Franzosen oder gar an einen Engländer anschließen zu können.“

Lachend gingen die beiden voran, der Baron folgte, und ich veränderte schnell mein Kostüm, um diese merkwürdigen Subjekte auf ihren Wanderungen zu verfolgen, denn ich hatte gerade nichts Besseres zu thun.

Die Menschen bleiben sich unter jeder Zone gleich – es ist möglich, daß Klima und Sitten eines anderen Landes eine kleine Veränderung in manchem hervorbringen; aber lasset nur eine Stunde lang Landsleute zusammen sprechen, der Nationalcharakter wird sich nicht verleugnen, wird mehr und mehr sich wieder hervorheben und deutlicher werden. So kommt es, daß dieser Geburtstag meiner lieben Großmutter mir Stoff zu tausend Reflexionen gibt, denn selbst im Fegfeuer, wenn diesen Leutchen nur ein Tag vergönnt ist, findet sich Gleiches zu Gleichem, und [465] es spricht und lacht und geht und liebt wie im Prater, wie auf der Chaussee d’Antin oder im Palais Royal, wie Unter den Linden oder wie in …

Welchen Anblick gewährte diese höllische Promenade! Die Stutzer aller Jahrhunderte, die Kurtisanen und Merveilleuses aller Zeiten; Theologen aller Konfessionen, Juristen aller Staaten, Financiers von Paris bis Konstantinopel, von Wien bis London; und sie alle in Streit über ihre Angelegenheiten, und sie alle mit dem ewigen Refrain: „Zu unserer Zeit, ja! Zu unserer Zeit war es doch anders!“ Aber ach, meine Stutzer kamen zu spät auf die Promenade, kaum daß noch Baron von Garnmacher einen jungen Dresdner Dichter umarmen und einer Berliner Sängerin sein Vergnügen ausdrücken konnte, ihre Bekanntschaft hier zu erneuern! Der edle junge Herr hatte durch seine Erzählung die Promenadezeit verkümmert, und die große Welt strömte schon zum Theater.


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3) Das Theater im Fegefeuer.

Man wundert sich vielleicht über ein Theater im Fegefeuer? Freilich ist es weder Opera buffa noch seria, weder Trauer- noch Lustspiel; ich habe zwar Schauspieldichter, Sänger, Acteurs und Actricen, Tänzer und Tänzerinnen genug, aber wie könnte man ein so gemischtes Publikum mit einem dieser Stücke unterhalten? Ließe ich von Zacharias Werner[1] eine schauerlich-tragi-komisch-historisch-romantisch-heroische Komödie aufführen, – wie würden sich Franzosen und Italiener langweilen, um von den Russen, die mehr das Trauerspiel und Mordszenen lieben, gar nicht zu sprechen. Wollte ich mir von Kotzebue ein Lustspiel schreiben lassen, etwa „Die Kleinstädter[2] in der Hölle“, wie würde


  1. Friedr. Ludw. Zacharias Werner (1768–1823), dramatischer Dichter von reichem Talent, aber verkommen und überspannt; am bekanntesten sind die Dramen „M. Luther oder die Weihe der Kraft“ (1805) und die Schicksalstragödie „Der 24. Februar“.
  2. Anspielung auf Kotzebues Lustspiel „Die deutschen Kleinstädter“.
Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke. Bibliographisches Institut, Leipzig, Wien 1891–1909, Seite 464–465. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Wilhelm_Hauff_Bd_2_234.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)