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Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke

nicht zu sich selbst kommen zu können. „Nein, ist es möglich!“ rief er wiederholt aus, „ist es möglich? Sehen Sie, Marquis, jener Herr dort oben in der zweiten Galerie rechts, mit den roten Augen, er spricht mit einer bleichen, jungen Dame, dieser starb in Berlin im Geruch der Heiligkeit und soll auch hier sein an diesem unheiligen Ort? Und jene Dame, mit welcher er spricht, wie oft habe ich sie gesehen und gesprochen! Sie war eine liebenswürdige, fromme Schwärmerin, ging lieber in die Dreifaltigkeitskirche als auf den Ball – sie starb, und wir alle glaubten, sie werde sogleich in den dritten Himmel schweben, und jetzt sitzt sie hier im Fegefeuer! Zwar wollte man behaupten, sie sei in Töplitz an einem heimlichen Wochenbett verschieden, aber wer ihren frommen Lebenslauf gesehen, wer konnte das glauben?“

„Ha! die Nase von Frankreich!“ rief auf einmal der Baron mit Ekstase. „Heiliger Ludwig, auch Ihr, auch Ihr unter Euren verlorenen Kindern? Ha! und ihr, ihr verdammten Kutten, die ihr mein schönes Vaterland in die Kapuze stecken wollet. Sehen Sie, Mylord, jene häßlichen, kriechenden Menschen? Sehen Sie, dort – das sind berühmte Missionäre, die uns glauben machen wollten, sie seien frömmer als wir. Dem Teufel sei es gedankt, daß er diese Schweine auch zu sich versammelt hat.“

„O, mein Herr“, sagte ich, „da hätten Sie nicht nötig gehabt bis ins Theater sich zu bemühen, um diese Leutchen zu sehen. Sie zeigen sich zwar nicht gerne auf den Promenaden, weil selbst in der Hölle nichts Erbärmlicheres zu sein pflegt, als ein entlarvter Heuchler; aber im Café de Congregation wimmelt es von diesen Herren. Vom Kardinal bis zum schlechten Pater. Sie können manche heilige Bekanntschaft dort machen.“

„Mein Herr, Sie scheinen bekannt hier“, erwiderte Mylord, „sagen Sie doch, wer sind diese ernsten Männer in Uniform nebenan? Sie unterhalten sich lebhaft, und doch sehe ich sie nicht lächeln. Sind es Engländer?“

„Verzeihen Sie“, antwortete ich, „es sind Soldaten und Offiziers von der alten Garde, die sich mit einigen Preußen über den letzten Feldzug besprechen.“

[469] Alle drei schienen erstaunt über dieses Zusammentreffen und wollten mehr fragen, aber der Kapellmeister hob den Stab und die Trompeten und Pauken der Rossinischen Ouvertüre schmetterten in das volle Haus. Es war die herrliche Ouvertüre aus „Il maestro ladro“[1], die Rossini auf sich selbst gedichtet hat, und das Publikum war entzückt über die schönen Anklänge aus der Musik aller Länder und Zeiten, und jedes fand seinen Lieblingsmeister, seine Lieblingsarie in dem herrlich komponierten Stück. Ich halte auch außer der Gazza ladra den Maestro ladro für sein Bestes, weil er darin seine Tendenz und seine künstlerische Gewandtheit im Komponieren ganz ausgesprochen hat. Die Ouvertüre endete mit dem ergreifenden Schluß von Mozarts „Don Juan“, dem man zur Vermehrung der Rührung einen Nachsatz von Pauken, Trommeln und Trompeten angehängt hatte und – der Vorhang flog auf.

Man sah einen Saal der Börsenhalle von London. Ängstlich drängten sich Juden und Christen durcheinander; in malerischen Gruppen standen Geldmäkler, große und kleine Kaufleute und steigerten die Papiere. Nachdem diese Introduktion einige Zeitlang gedauert hatte, kamen in sonderbaren Sprüngen und Kapriolen zwei Kuriere hereingetanzt. Allgemeine Spannung; die Depeschen werden in einem Pas de Deux entsiegelt, die Nachrichten mitgeteilt. In diesem Augenblick erscheint mein erster Solotänzer, das Haus Goldsmith vorstellend, in der Szene. Seine Mienen, seine Haltung drücken Verzweiflung aus, man sieht, seine Fonds sind erschöpft, sein Beutel leer, er muß seine Zahlungen einstellen. Ein Chor von Juden und Christen dringen auf ihn ein, um sich bezahlt zu machen. Er fleht, er bittet, seine Geberdensprache ist bezaubernd – es hilft nichts. Da raffte er sich verzweiflungsvoll auf; er tanzte ein Solo voll Ernst und Majestät; wie ein gefallener König ist er noch im Unglück groß, seine Sprünge reichen zu einer immensen Höhe, und mit einem prachtvollen Fußtriller fällt das Haus Goldsmith in London. Komisch


  1. Il maëstro ladro heißt „der diebische Meister“, ein Operntitel, den Hauff, unter Anlehnung an „La gazza ladra“, „Die diebische Elster“, hier spottend erdichtet, um auf Rossinis musikalische Anleihen und Diebstähle hinzuweisen.
Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke. Bibliographisches Institut, Leipzig, Wien 1891–1909, Seite 468–469. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Wilhelm_Hauff_Bd_2_236.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)