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Rhein öffnete, bald die Terrasse, von wo sie das ländliche Gemälde der Arbeiter in den Feldern und an den Weinbergen vor sich hatten, so nah’, um alles wie ein treues Tableau zu betrachten, und doch ferne genug, um im stillen Genuß des Morgens nicht gestört zu sein, bald hatte sie eine Laube im Garten ausgesucht, wo die Welt ringsum von dichten Platanen abgeschlossen und nur der frischen Morgenluft oder dem Frührot der Zutritt gestattet war. So erschien sie immer neu und überraschend, und wenn der Freund herzutrat, wie freudig stand sie auf, wie hold bot sie ihm die Hand zum Gruß, wie lebhaft wußte sie, wenn er noch ganz in ihren Anblick versunken ohne Worte war, das Gespräch anzuknüpfen, dies und jenes zu erzählen, durch Laune und feine Beobachtung allem, was sie sagte, ein eigenes Gewand, einen eigentümlichen Reiz zu geben! Und wenn sie dann nachher schnell und emsig das Geräte des Frühstücks auf die Seite räumte, wenn er sein Buch hervorzog, wenn sie mit der Arbeit, die sie selten beiseite legte, ihm sich gegenübersetzte und erwartungsvoll an seinen Lippen hing, da war es ihm oft, als müsse er alles, die ganze Welt vergessen, und einen kleinen, kurzen, seligen Augenblick träumte er, er sei ein glücklicher Gatte und sitze hier an der Seite eines geliebten Weibes.


20.

Es gereichte Josephen in den Augen ihres Freundes zu keinem geringen Ruhm, daß sie gerade jenen Dichter zu ihrem Liebling erwählt hatte, der auch ihn vor allen anzog. Zwar mußte er ihr oft bei Vorlesungen aus Jean Pauls herrlichen Dichtungen zu Hülfe kommen, um dieses oder jenes dunklere Gleichnis zu erklären; aber sie faßte schnell, ihr natürlicher Takt und ihr zarter Sinn, der so ganz in dem Dichter lebte, ließ sie manches erraten, ehe ihr noch der Freund Gewißheit gegeben hatte.

„Es liegt doch“, sagte sie eines Tages, „eine Welt voll Gedanken in diesem Hesperus! Jede menschliche Empfindung bei Freude und Schmerz, bei Liebe und Gram liegt zergliedert vor uns da; er weiß uns, indem wir den süßen Duft einer Blume einsaugen, ihre innersten Teile, ihre zarten Blätter, ihre feinsten [325] Staubfäden zu beschreiben, ohne daß er sie zerstört, entblättert. Denn das, glaube ich, ist ja das große, tiefe Geheimnis dieses Meisters, daß er jede tiefere Empfindung nicht beschreibt, sondern andeutet, und doch wieder nicht flüchtig andeutet, sondern wie durch das feine Mikroskop eines Gleichnisses uns einen tiefen Blick in die Menschenseele thun läßt, wo Gedanke an Gedanke aufsteigt und das Auge, überrascht, aber entzückt über die wundervolle Schöpfung, in eine Thräne übergeht.“

„Sie haben“, erwiderte der Gastfreund, „wie es mir scheint, in diesen Worten sein Geheimnis wirklich ausgesprochen. Mir ist sonst, ich gestehe es offen, nichts so in der innersten Seele zuwider, als das sichtbare Abmühen eines Autors, dem Leser recht klar und deutlich zu machen, was sein Held, oder die Heldin, oder eine dritte, vierte Person da oder dort empfunden oder gedacht. Aber unser Dichter! Wie herrlich, wie reich ist auch hierin seine Erfindung, wir leben, wir denken, wir weinen unwillkürlich mit Viktor, und Klothildens[1] bleichere Wangen, ihre klagelose Trauer trifft uns tiefer, als jede Beschreibung es sagen kann, und im warmen, weichen Glück der Liebenden möchten wir ein Strahl der Abendsonne sein, der in der Laube um ihre Umarmung spielt, jene Nachtigall, die ihnen die fromme Feier ihrer Seligkeit mit ihrer glockenhellen Stimme einläutete.“

„Es ist sonderbar“, bemerkte Josephe, „der Faden dieses Romans, was man sein Gerippe nennt, würde uns bei einem andern nicht im mindesten interessant, vielleicht sogar gesucht, langweilig dünken. Sechs verlorene, vertauschte, wiedergefundene Söhne, statt daß z. B. Walter Scott gewöhnlich nur einen hat und sogar der Verfasser des ‚Walladmor‘[2] in seiner Parodie mit zweien sich begnügt. Eine junge Dame, die zu ihrer Qual von ihrem Bruder geliebt wird, selbst aber seinen Freund liebt; ein kleiner, simpler Hof in Duodez, ein Pfarrhaus voll Ratten und Kinder und ein Edelsitz, wo Unedle wohnen; denken Sie sich diese gewöhnlichen


  1. Siehe Jean Pauls „Hesperus, oder die 45 Hundsposttage“
  2. Der Verfasser des „Walladmor“ ist Wilibald Alexis (s. S. 263), der in diesem Roman Walter Scotts Manier täuschend nachahmte.
Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke. Bibliographisches Institut, Leipzig, Wien 1891–1909, Seite 324–325. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Wilhelm_Hauff_Bd_3_165.png&oldid=- (Version vom 31.7.2018)