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überlassen es dem Vorübergehenden, ob er ihren bittenden Blick beachten will.

Am schauerlichsten, wenigstens für mein Gefühl, waren immer jene verschämten Bettler, die nachts mit verhülltem Haupt, eine brennende Kerze vor sich, regungslos, fast schon wie erstorben in einer Ecke stehen; viele meiner Bekannten in Paris hatten mich versichert, daß man darauf rechnen könne, daß dies meistens Leute aus besseren Ständen seien, die durch Unglück so tief herabgekommen sind, daß sie entweder Arbeit suchen müssen, oder sind sie zu verschämt, vielleicht zu schwach, um für Brot zu arbeiten, so ergreifen sie diesen letzten Ausweg, ehe sie, wie so viele Unglückliche, ihr Leben in der Seine der Vergessenheit übergeben.

Von dieser Klasse der Bettelnden war die weibliche Gestalt an dem Pont des Arts, deren Anblick mich unwiderstehlich fesselte. Ich sah sie näher an; ihre Glieder schienen vor Frost noch heftiger zu zittern als das Flämmchen in der Laterne, aber sie schwieg und ließ ihr Elend und den kalten Nachtwind für sich reden. Ich suchte in der Tasche nach kleinem Gelde, aber es wollte sich kein Sous, sogar kein einzelner Frank finden. Ich wandte mich an Faldner und bat ihn um Münze; aber unmutig, durch mein Zögern der schneidenden Kälte ausgesetzt zu sein, rief er mir in unserer Sprache zu: ‚So laß doch das Bettelvolk und spute dich, daß wir zu Bette kommen, mich friert!‘ – ‚Nur ein paar Sous, Bester!‘ bat ich; aber er packte mich am Mantel und wollte mich wegziehen.

Da rief die Verhüllte mit zitternder, aber wohltönender Stimme und zu unserer Verwunderung auf gut deutsch: ‚O meine Herren! sei’n sie barmherzig!‘ Diese Stimme, diese Worte und unsere Sprache hatten etwas so Rührendes für mich, daß ich nochmal um einige Münze bat; er lachte. ‚Nun wohlan, da hast du ein paar Franks‘, sagte er, ‚versuche dein Heil mit der Jungfer, aber mich laß aus dem Zug treten.‘ Er drückte mir das Geld in die Hand und ging lachend weiter. Ich war in diesem Augenblick wirklich verlegen, was ich thun sollte; sie mußte ja gehört haben, was Faldner sagte, und beleidigen mag ich am wenigsten einen Unglücklichen. Ich trat unschlüssig näher. ‚Mein Kind‘, sagte [333] ich, ‚Sie haben hier einen schlechten Standpunkt gewählt, hier werden heute abend nicht mehr viele Menschen vorübergehen.‘ Sie antwortete nicht gleich; ‚wenn nur‘, flüsterte sie nach einer Weile kaum hörbar, ‚diese Wenigen Gefühl für Unglück haben.‘ Diese Antwort überraschte mich, sie war so ungesucht und doch so treffend. Die edle Haltung des Mädchens, der Ton, womit sie jene Worte gesagt, verrieten Bildung. ‚Wir sind Landsleute‘, fuhr ich fort, ‚darf ich Sie nicht bitten, daß Sie mir sagen, ob ich vielleicht mehr für Sie thun kann, als so im Vorübergehen zu geschehen pflegt?‘ – ‚Wir sind sehr arm‘, antwortete sie, wie mir schien, etwas mutiger, ‚und meine Mutter ist krank und ohne Hülfe.‘ Ohne weitere Überlegung, nur von dem unbestimmten Gefühl, daß mich das Mädchen sehr anzog, getrieben, sagte ich: ‚Führen Sie mich zu ihr.‘ Sie schwieg, der Vorschlag schien sie zu überraschen. ‚Halten Sie dies für nichts anders‘, fuhr ich fort, ‚als für meinen redlichen Willen, Ihnen zu helfen, wenn ich kann.‘ – ‚So kommen Sie‘, erwiderte die Verschleierte, hob ihr Laternchen auf, löschte es aus und verbarg es samt dem Teller unter dem Mantel.“


23.

„Wie?“ rief der Baron laut lachend, als Fröben schwieg, „weiter willst du nicht erzählen? Willst es auch heute wieder machen, wie du es mir schon damals machtest? Nämlich bis hieher, meine Herren und Damen, hat er ganz nach reiner historischer Wahrheit erzählt. Er glaubte mich vielleicht weit weg, und ich stand keine zehn Schritte von der erbaulichen Samariterszene unter dem Portal des Palais und sah ihm zu; ob der Dialog wirklich so vor sich gegangen, weiß ich nicht, denn der schändliche Wind verwehte die Worte, aber ich sah, wie die Dame ihr Lämpchen auslöschte und mit ihm zurück über die Brücke ging. Die Nacht war mir zu kalt, um ihm bei seinem galanten Abenteuer zu folgen, aber am Ende, ich wollte wetten, sah er weder eine kranke Mama noch dergleichen, sondern die Dame vom Pont des Arts hatte das alte Sirenenlied nur auf andere Weise gesungen!“

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke. Bibliographisches Institut, Leipzig, Wien 1891–1909, Seite 332–333. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Wilhelm_Hauff_Bd_3_169.png&oldid=- (Version vom 31.7.2018)