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Reelzingen ließ kraftlos und zitternd seinen Arm sinken; er gestand nachher, daß ihn eine kalte Hand angefaßt habe. Gustav aber zog mit pochendem Herzen die Börse und warf ein Silberstück in den großen Hut. „Wieviel Uhr ist’s, Alter?“ fragte er.

„Weiß keine Stund’ als zwölf Uhr“, sprach die Gestalt, die wieder auf dem Geländer zusammenkauerte, mit dumpfer Stimme. „Dank dir, sollst Glück haben; reit’ zu!“ Er sagte es und stürzte rücklings mit einem dumpfen Fall in den Sumpf, über den die Brücke führte. Entsetzt gab Reelzingen seinem Pferde die Sporen, daß es sich hoch aufbäumte und dann in zwei Sprüngen über die Brücke setzte. Gustav aber hielt erschrocken sein Pferd an, stieg ab und blickte über das Geländer der Brücke. Es rührte sich nichts. „Alter!“ rief er hinab, „hast du Schaden genommen? Kann ich dir helfen?“ – Keine Antwort, und alles war still unten wie im Grabe.

Jetzt faßte auch den jungen Lanbek eine unerklärliche Angst; er fühlte, als er aufstieg, wie sein Pferd zitterte; er wagte es nicht, sich noch einmal nach dem grauenvollen Ort umzusehen, als er seinem Freund nachjagte.

„Das ist jetzt das zweite Mal, daß er mir begegnet ist“, flüsterte Reelzingen tief aufatmend, als Lanbek wieder an seiner Seite war.

„Wer?“ fragte dieser betroffen.

„Der Teufel“, antwortete der Kapitän.

Lanbek gab ihm keine Antwort auf die sonderbare Rede, und sie jagten weiter durch die Nacht hin. In Zuffenhausen schlug es Viertel vor zwölf Uhr, als sie durchritten; in den meisten Häusern brannten noch die Kerzen, und da und dort hörte man geistliche Lieder aus den Stuben. Der Nachtwächter stieß eben ins Horn und rief die Stunde; der Kapitän hielt an und fragte ihn, was diese späten Gesänge und Gebete zu bedeuten haben.

„Ach Herr! das ist eine arge Nacht“, antwortete dieser; „es hat ein Mann an vielen Häusern gepocht und befohlen, die Leute sollen die ganze Nacht bis zwölf Uhr beten.“

„Wer ist der Mann?“ fragte Lanbek staunend.

„Alte Leute, Herr, die ihn gesehen haben, versichern, es sei [443] unser alter Pfarrer gewesen; Gott hab’ ihn selig, er ist seit zwanzig Jahren tot; aber es war ja nichts Unchristliches, was er verlangte, drum beten und singen sie in den Lichtkarzstuben[1] und spinnen dazu.“

„Diese Nacht kann mich noch wahnsinnig machen“, rief der Kapitän, indem sie wegritten. „Gustav, ich glaube, heute nacht geht er leibhaftig auf der Erde um; ich denke, es wäre jetzt gerade die beste Zeit, den alten Burschen zu citieren, wenn man etwa schnell Obrist werden oder zweimalhunderttausend spanische Quadrupel[2] haben möchte.“

„Thor!“ antwortete der Freund; „der, den du meinst, hat mit dem Gebet nichts gemein.“

Es war, als ob ihre Pferde nur zum Schein die Beine aufhöben, denn jede Viertelstunde, die sie zurücklegten, schien zu einer neuen anzuwachsen. Noch immer wollte Ludwigsburg nicht erscheinen, und die Nacht war so finster, daß sie auch an der Gegend nicht erkennen konnten, ob sie fehl geritten oder ob sie der Stadt schon nahe seien. Endlich, nachdem sie etwa wieder eine halbe Stunde geritten sein mochten, sahen sie in der Entfernung von etwa tausend Schritten Lichter schimmern, fanden aber auch zugleich ihren Weg durch vier Pferde versperrt, die, an einen Reisewagen gespannt, quer über die Landstraße standen.

„Führ’ deine Pferde hinweg, Fuhrmann!“ rief der Kapitän, „oder meine Peitsche wird sie bald weggetrieben haben; warum versperrst du den Weg?“

„Gemach, ihr Herrn, soll gleich geschehen“, antwortete ein Mann, der von dem Wagen stieg. Aber die Zeit, die er dazu brauchte, die herabgefallenen Zügel aufzunehmen und zu ordnen, dauerte dem raschen Soldaten zu lange, er versuchte über die schlaff liegenden Stränge des vordersten Gespanns wegzusetzen und forderte seinen Freund auf, ein Gleiches zu thun; doch wie es in solchen Fällen blinder Eilen zu geschehen pflegt, in demselben Augenblick zog der Mann am Wagen die Zügel an, und das


  1. Schwäbischer Ausdruck für Spinnstuben.
  2. Quadrupel heißt eine früher in Spanien geprägte Goldmünze von 4 Pistolen (ungefähr 64 Mark).
Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke. Bibliographisches Institut, Leipzig, Wien 1891–1909, Seite 442–443. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Wilhelm_Hauff_Bd_3_224.png&oldid=- (Version vom 31.7.2018)