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aufgestanden, und der kleine Mensch in der thierbergischen Livree eilte auf seinen Wink mit zwei Kerzen herbei.

„Gute Nacht“, wandte er sich noch einmal zu seinem Neffen; „stoße dich nicht daran, wenn du mich zuweilen heftig siehst; ’s ist so meine Natur. Schlafet wohl, Kinder!“ setzte er ruhiger hinzu, „wenn die Gegenwart schlecht ist, muß man von besseren Zeiten träumen.“ Anna küßte ihm gerührt die Hand, und die erhabene Gestalt des alten Herrn schritt langsam der Thüre zu. Rantow war so betroffen von allem, was er gehört und gesehen, daß es ihm sogar entging, welche komische Figur der Diener machte, der seinem Herrn zu Bette leuchtete. Die weite Staatslivree, die er trug, hing beinahe bis zum Boden herab, und die langen bortierten Aufschläge bedeckten völlig die Hände, welche die silbernen Leuchter trugen. Er war anzusehen wie ein großer Pilgrim, der einen Kalvarienberg[1] hinan auf den Knien rutscht. Um so erhabener war der Kontrast des Mannes, der ihm folgte; er schien, als er durch den altfränkischen Saal unter den Familiengemälden seiner Ahnen vorbeischritt, wie ein wandelndes Bild, „der guten alten Zeit.“

Als der alte Herr das Gemach verlassen hatte, stand das Fräulein mit einer Verbeugung gegen ihren Gast auf und trat in ein Fenster. Der junge Mann fühlte an ihrem Schweigen, daß er diesen Abend Saiten berührt haben müsse, die man anzutasten sonst vielleicht sorgfältig vermied. Sie blickte hinaus in die Nacht, und Rantow trat an ihre Seite; er hatte oft erprobt, wie sich Mißverständnisse leichter lösen, wenn man sie in einen Scherz kehrt, als wenn man mit Ernst oder Wehmut darüber spricht. Mit solch einem Scherz wollte er Anna versöhnen; doch als er zu ihr ans Fenster trat, war der Anblick, der sich ihm darbot, so überraschend, daß kein heiteres Wort über seine Lippen schlüpfen konnte. Das tiefe, schwärzliche und doch so reine Blau, das nur ein südlicher Himmel im Mondlicht zeigt, hatte er noch nie gesehen. Über Wald und Weinberge herab goß der Mond seltsame Streiflichter, und im Thal schimmerten seinen Glanz nur die zitternden Wellen des Neckars und die Spitze des dunkeln [479] Kirchturms zurück. Der falbe Schein dieses Lichtes der Nacht hatte Annas Züge gebleicht, und in ihren schönen Augen schwamm eine Thräne. Jetzt erst, als alles so still und lautlos war, vernahm man aus der Ferne die gehaltenen Töne einer Flöte, und diese Klänge verbanden sich so sanft mit dem milden Schimmer des Mondes, daß man zu glauben versucht war, es seien seine Strahlen, die so melodisch sich auf die Erde niedersenkten. Ein seliges Lächeln zog über Annas Gesicht; ihr glänzender Blick hing an einer Waldspitze, die weit in das Thal vorsprang, und ihre tieferen Atemzüge schienen der Flöte zu antworten.

„Wie prachtvoll ist selbst die Nacht in Ihrem Thal“, sprach nach einer Weile der Gast. „Wie schön wölbt sich der Himmel darüber hin, und der Mond scheint nur für diesen stillen Winkel der Erde geschaffen zu sein.“

Anna öffnete das hohe Bogenfenster. „Wie warm und mild es noch draußen ist!“ sagte sie, indem sie freundlich in das Thal hinabschaute. „Kein Lüftchen weht.“

„Aber die Bäume neigen sich doch her und hin“, erwiderte er, „sie rauschen, gewiß vom Wind bewegt.“

„Kein Lüftchen weht!“ wiederholte sie und hielt ihr weißes Tuch hinaus. „Sehen Sie, nicht einmal dieses leichte Tuch bewegt sich. Und kennen Sie denn nicht die alte Sage von den Bäumen? Nicht der Nachtwind ist es, der ihre Blätter bewegt, sie flüstern jetzt und erzählen sich, und wer nur ihre Sprache verstünde, könnte manches Geheimnis erfahren.“

„Vielleicht könnte man dann auch erfahren, wer der Flötenspieler ist“, sagte der Vetter, indem er Anna schärfer ansah; denn schon war er so eifersüchtig auf seine schöne Base geworden, daß ihm die süßen Töne vom Wald her und ihr Tuch, das sie noch immer aus dem Fenster hielt, in Wechselwirkung zu stehen schienen.

„Das kann ich Ihnen auch ohne die Bäume verraten“, erwiderte sie lächelnd, indem sie das Tuch zurücknahm. „Das ist ein munterer Jägerbursche, der seinem Mädchen einen guten Abend spielt.“

„Dazu ist aber die Entfernung doch beinahe zu groß“, fuhr er fort, „manche Töne werden nicht ganz deutlich.“


  1. Kalvarienberg (d. h. Schädelstätte) werden in katholischen Ländern kleine Hügel genannt, auf denen ein Kruzifix steht.
Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke. Bibliographisches Institut, Leipzig, Wien 1891–1909, Seite 478–479. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Wilhelm_Hauff_Bd_3_242.png&oldid=- (Version vom 31.7.2018)