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„Im Dorf unten hört man es besser als hier oben“, sagte sie gleichgültig und schloß das Fenster; „überdies sagt ja das Sprichwort: ‚das Ohr der Liebe hört noch weiter als das des Argwohns.‘“

„Schön gesagt“, rief der junge Mann, „doch das Auge des Argwohns sieht weiter als das der Liebe.“

„Sie haben Recht“, entgegnete sie, „aber nur bei Tag, nicht bei Nacht.“

Diese, wie es schien, ganz absichtlos gesagten Worte überraschten den jungen Mann so sehr, daß er beschämt die Augen niederschlug. Er warf sich seine Thorheit vor, daß er nur einen Augenblick glauben konnte, es sei ein Liebhaber dieses arglosen Kindes, der dort im Walde musiziere.

„Und nun gute Nacht, Vetter“, fuhr Anna fort, indem sie eine Kerze ergriff. „Träumen Sie etwas recht Schönes, man sagt ja, der erste Traum in einem Hause werde wahr; Hans! leuchte dem Herrn Baron ins rechte Turmzimmer! Und dies noch“, setzte sie auf Französisch hinzu, als der Diener näher trat; „vermeiden Sie mit meinem Vater über Dinge zu sprechen, die ihn so tief berühren. Er ist sehr heftig, doch gilt sein Zorn nie der Person, sondern der Meinung. Es war meine Schuld, daß ich Sie nicht zuvor unterrichtet habe, morgen will ich nähere Instruktionen erteilen; – gute Nacht!“

Sinnend über dieses sonderbare und doch so liebenswürdige Wesen folgte der Gast dem Diener, und die dumpfhallenden Gänge und Wendeltreppen, das vieleckigte, in wunderlichen Spitzbogen gewölbte Gemach, das altertümliche Gardinenbette, so manche Gegenstände, die er sonst so aufmerksam betrachtet hätte, blieben diesmal ohne Eindruck auf seine Seele, die nur eifrig beschäftigt war, den Charakter und das Benehmen Annas zu prüfen und zu mustern.


5.

Als der Gast am folgenden Morgen nach einer sorgfältigen Toilette hinabging, um mit seinen Verwandten zu frühstücken, konnte er sich anfänglich in dem alten Gemäuer nicht zurechtfinden. [481] Ein Diener, auf welchen er stieß, führte ihn dem Saal zu, und an den Gängen und Treppen, die er durchwandern mußte, bemerkte er erst, was ihm gestern nicht aufgefallen war, daß er im entlegensten Teil dieser Burg geschlafen habe. Auf sein Befragen gestand ihm der Diener, daß sein Gemach das einzige sei, das man auf jener Seite noch bewohnen könne, und außer dem Wohnzimmer mit den gewirkten Tapeten, dem Schlafzimmer des alten Herrn, dem Saal, dem kleinen Zimmerchen in einem andern Turm, wo Fräulein Anna wohne, sei nur noch das ungeheure Bedientenzimmer, das früher zu einer Küche gedient habe, und die Wohnung des Amtmanns einigermaßen bewohnbar; die übrigen Gemächer seien entweder schon halb eingestürzt, oder werden zu Fruchtböden und dergleichen benützt. Der stolze Sinn des Oheims und die fröhliche Anmut seiner Tochter standen in sonderbarem Widerspruch mit diesen öden Mauern und verfallenen Treppen, mit diesen sprechenden Bildern einer vornehmen Dürftigkeit. Der junge Mann war, wenn nicht an Pracht, doch an eine gewisse reinliche Eleganz in seiner Umgebung selbst an den Treppen und Wänden gewöhnt, und er konnte daher nicht umhin, seine Verwandten, die in so großer, augenscheinlicher Entbehrung lebten, für sehr unglücklich zu halten. Das romantische Interesse, das der erste Anblick dieser Burg für ihn gehabt hatte, verschwand vor dieser traurigen Wirklichkeit, und wenn er sich dachte, wie die Mauerrisse und Spalten, durch welche jetzt nur die warme Morgensonne hereinfiel, den Stürmen des Winters freien Durchgang lassen mußten, war ihm Annas Furcht vor dieser Jahrszeit wohl erklärlich.

„Und ein so zartes Wesen diesen rauhen Stürmen ausgesetzt“, sagte er zu sich, „ein so reicher und gebildeter Geist ohne Umgang, vielleicht ohne Lektüre, einen ganzen Winter lang in diesen Mauern vom Schnee und Wetter gefangen gehalten, einsam bei dem ernsten, feierlichen, alten Mann! Und dieser ehrwürdige Alte, der einst bessere Tage gesehen, durch die Ungunst der Zeit in unverschuldete Dürftigkeit und Entbehrung versetzt!“ Von so gutmütiger Natur war das Herz des jungen Mannes, daß er vor der Thüre des Saales halb und halb den Entschluß faßte, um die

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Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke. Bibliographisches Institut, Leipzig, Wien 1891–1909, Seite 480–481. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Wilhelm_Hauff_Bd_3_243.png&oldid=- (Version vom 31.7.2018)