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„Freund“, entgegnete Rantow, „in diesem Süddeutschland finde ich mich selbst nicht mehr; es ist alles ganz anders, man denkt, man spricht anders, als ich gewöhnt bin, und so mag ich mir selbst kein Urteil mehr zutrauen, am wenigsten über Anna.“

„General!“ rief Anna, „Sie führen nachher hoffentlich meine Verteidigung gegen Ihren Herrn Sohn?“

„Nun merken Sie auf, Rantow!“ sprach der junge Willi. „Daß dieses Fräulein die Schönste im ganzen Neckarthal, von Heidelberg bis Tübingen, ist, behaupten nicht nur alle reisenden Studenten, sondern auch sie selbst weiß es nur allzu gut und hat sich ganz darnach eingerichtet; sie ist aber dabei so spröde wie Leandra im eben angeführten ‚Don Quixote‘. Nach ihren politischen Ansichten, denn sie ist gewaltig politisch, ist sie ein Amphibion. Sie hält es bald mit dem Alten, bald mit der neuen Zeit. Sie ist gewaltig stolz, daß sie vierundsechzig Ahnen hat, auf ihrem Stammschloß lebt, und daß schon Anno 950 ein Thierberg einen Acker gekauft hat. Auf der andern Seite ist sie durch und durch Napoleonisch. Sie hat den ersten Lügner seiner Zeit, den ‚Moniteur‘[1] öfter gelesen als die Bibel, trägt ein Stückchen Zeug, das Montholon[2] meinem Vater schickte, und das angeblich von Napoleons letztem Lager stammt, in einem Ring, singt nichts als kaiserliche Lieder von Béranger[3] und Delavigne[4], und kurz – sie liebt eben jenen Mann mit Enthusiasmus, der den Glanz ihrer vierundsechzig Ahnen in den Staub geworfen hat.“

„Sind Sie nun zu Ende?“ fragte Anna, ruhig lächelnd, indem sie ihren Ring an die Lippen zog. „Weißt du aber auch, Vetter, daß er den ärgsten Anklagepunkt, das schwärzeste Verbrechen in seinen Augen aus Edelmut verschwiegen hat? Nämlich [505] das, daß ich kein sogenanntes deutsches Mädchen bin, daß ich nicht jetzt schon in meinem Kämmerlein mich im Spinnen übe, wie es einer deutschen Maid frommt, und keine Lorbeerkränze für die Stirne der künftigen Sieger flechte. Weißt du denn auch, wer dieser Herr ist? Das ist ein Glied eines ungeheuren, unsichtbaren Bundes, der nächstens das Oberste zu unterst kehren wird; nun, bei euch soll es ja noch mehrere solcher Staatsmänner geben. Aber, Herr von Willi, wie ist mir doch, ist es denn wahr, was man mir letzthin erzählte, daß unter euren geheimen Gesetzen eines ausdrücklich gegen junge Damen von Adel gerichtet sei und also laute: ‚Wenn ein biderber[WS 1] deutscher Ritter um eine Jungfrau freit, die ehemals der adeligen Kaste angehörte, und solche aus thörichtem Hochmut ihre Hand versagt, soll ihr Name öffentlich bekannt gemacht und sie selbst für wahnsinnig erklärt werden.‘“

Das Pathos, womit Anna diese Worte vorbrachte, war so komisch, daß der General und Rantow unwillkürlich in Lachen ausbrachen; der junge Willi aber errötete, und unmutig entgegnete er: „Wie mögen Sie sich nur immer über Dinge lustig machen, die Ihnen so ferne liegen, daß Sie auch nicht das Geringste davon fühlen können? Ich gebe zu, daß es Ihnen in Ihrem Stande, in Ihren Verhältnissen recht angenehm und behaglich scheinen mag, weil Sie freiere Formen und natürlichere Sitten nicht kennen, keine Ahnung davon haben. Warum aber mit Spott Gefühle verfolgen, die wenigstens in Männerbrust mächtig und erhaben wirken und zu allem Schönen und Guten begeistern?“

„Wie ungezogen!“ erwiderte Anna. „Sie haben mit Spott begonnen und meine Ahnen und den Kaiser der Franzosen schlecht behandelt und nehmen es nun empfindlich auf, wenn man über die Herren Demagogen und ihre Träume scherzt! Wahrlich, wenn nicht Ihr Vater ein so braver Mann und mein getreuester Anhänger wäre, Sie sollten es entgelten müssen. Doch zur Strafe will ich Sie über das Gedicht examinieren, das Sie mir für meinen Vater versprochen haben.“ Sie nahm bei diesen Worten Roberts Arm und ging mit ihm den Baumgang hin, und Albert


  1. Der „Moniteur universel“ wurde am 24. November 1789 als französische Staatszeitung gegründet und war bis 1869 das Organ der Regierung.
  2. Charles Tristan Montholon, Graf von Lee (1783–1853), war 1814 Brigadegeneral unter Napoleon und folgte diesem nach St. Helena in die Verbannung.
  3. Pierre Jean de Béranger (1780–1857), der volkstümlichste und nationalste Liederdichter Frankreichs.
  4. Casimir Jean François Delavigne (1793–1843), begabter französischer Dichter der nachklassischen Schule, schrieb politisch-satirische Elegien und historische Dramen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. (bieder) nützlich, wacker, rechtschaffen (Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm).
Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke. Bibliographisches Institut, Leipzig, Wien 1891–1909, Seite 504–505. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Wilhelm_Hauff_Bd_3_255.png&oldid=- (Version vom 31.7.2018)