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Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke

Der Direktor hatte den Grundsatz, daß kein Mensch, er sehe so ehrlich aus, als er wolle, zu gut zu einem Verbrechen sei. Der Kommerzienrat Bolnau, und einen andern wußte er nicht in dieser Stadt, war ihm zwar als ein geordneter Mann bekannt, aber – hatte man nicht Beispiele, daß gerade solche Leute, denen man vor der Welt nichts nachsagen konnte, der Justiz am meisten zu schaffen machten? Konnte er nicht mit diesem Chevalier de Planto unter einer Decke spielen? Er setzte unter diesen Betrachtungen seinen Weg weiter fort, er näherte sich der Breiten Straße, es fiel ihm bei, daß um diese Zeit der Kommerzienrat sich dort zu ergehen pflegte; er beschloß, ihm ein wenig auf den Zahn zu fühlen. Richtig, dort kam er die Straße herab, er grüßte rechts, er grüßte links, er sprach alle Augenblicke mit einem Bekannten, er lächelte, wenn er weiter ging, vor sich hin, er schien munter und guter Dinge zu sein. Er mochte etwa noch fünfzig Schritte vom Direktor entfernt sein, als er diesen ansichtig wurde; er erbleichte, er wandte um und wollte in eine Seitenstraße einbiegen. „Ein verdächtiger, sehr verdächtiger Umstand!“ dachte der Direktor, lief ihm nach, rief seinen Namen und brachte ihn zum Stehen. Der Kommerzienrat war ein Bild des Jammers; er bracht in hohlen Tönen ein „Bon jour, bon jour“ hervor, er schien lächeln zu wollen, aber die Augen gingen ihm über und sein Gesicht verzog sich krampfhaft; seine Kniee zitterten, seine Zähne schlugen hörbar aneinander.

„Ei, ei, Sie machen sich recht rar. Habe Sie schon ein paar Tage nicht an meinem Fenster vorbeigehen sehen; Sie scheinen nicht recht wohl zu sein?“ setzte der Direktor mit einem stechenden Blicke hinzu. „Sie sind so blaß; fehlt Ihnen etwas?“

„Nein – es ist nur so ein kleines Frösteln – ich war wirklich einige Tage nicht wohl, aber Gottlob, es geht mir besser.“

„So? Sie waren nicht wohl?“ fragte jener weiter, „das hätte ich kaum gedacht; ich glaubte, Sie doch noch vor wenigen Tagen auf der Redoute recht munter zu sehen.“

„Ja freilich; aber gleich den folgenden Tag mußte ich mich legen; ich bekam meine Zufälle wieder, aber ich bin jetzt ganz wieder hergestellt.“

„Nun, da werden Sie nicht versäumen, die nächste Redoute [367] zu besuchen; es ist die letzte und soll sehr brillant werden, ich hoffe Sie dort zu sehen; bis dahin adieu! Herr Kommerzienrat.“


„Werde nicht mankieren!“ rief ihm der Kommerzienrat Bolnau mit jammervollen Mienen nach. „Der hat Verdacht!“ sprach er zu sich, „der weiß etwas von dem Wort der Sängerin. Zwar soll sie wieder hergestellt sein; aber kann nicht der Verdacht im Herzen dieses Polizisten um sich fressen? Kann er mich nicht aus Argwohn beobachten lassen? Die geheime Polizei wird mich verfolgen; auf allen meinen Schritten und Tritten sehe ich schlaue, fremde Gesichter. Ich darf nichts mehr reden, so wird es rapportiert, gedeutet; ich werde, o Gott im Himmel, ich werde ein unruhiger Kopf, ein gefährliches Individuum; und doch lebte ich still und harmlos wie Wilhelm Tell im vierten Akt!“[1]

So sprach der unglückliche Bolnau bei sich; seine Angst vermehrte sich, als er über die verfängliche Frage wegen der nächsten Redoute nachdachte. „Er meint gewiß, ich werde mich nicht in die Nähe der Sängerin wagen, aus bösem Gewissen; aber ich muß hin, ich muß ihm diesen Verdacht benehmen! Und doch – wird mich nicht in ihrer Nähe ein Zittern und Beben überfallen, gerade weil er glauben kann, ich werde aus Gewissensbissen und Angst zittern?“ Er quälte sich ab mit diesen Vorstellungen, sie beschäftigten ihn tagelang, er erinnerte sich, daß ein berühmter Schriftsteller in einer Schrift bewiesen habe, daß man Angst vor der Angst haben könne, und dies schien ihm ganz sein Fall zu sein. Aber er fühlte, daß er sich ein Herz fassen und der Gefahr entgegengehen müsse. Er ließ sich vom Maskenverleiher den prachtvollen Anzug des Pascha von Janina[2] holen; er zog ihn alle Tage an und übte sich vor einem großen Spiegel, recht unbefangen aus seiner Maske hervorzuschauen. Er machte sich aus seinem Schlafrock eine Puppe und setzte sie auf einen Sessel; sie stellte die Sängerin Bianetti vor. Er ging als Pascha um sie her, näherte sich ihr und sprach: „Es freuet mich unendlich, Sie


  1. Worte aus dem großen Monolog Tells in der 3. Szene des 4. Aktes von Schillers Drama.
  2. Ali, Pascha von Janina (geboren 1741), Vertreter der europäischen Kultur in der Türkei und deshalb populäre Persönlichkeit in Westeuropa, wurde am 1. Februar 1822 vom Sultan Mahmud II. zur Übergabe der Zitadelle von Janina gezwungen und darauf enthauptet.
Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke. Bibliographisches Institut, Leipzig., Wien, 1891–1909, Seite 366–367. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Wilhelm_Hauff_Bd_4_184.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)