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Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke

Unlust anzusehen, daß nicht ihre eigenen Produkte, sondern fremde Geschichten vorgelesen werden sollten.

„Ich wüßte keinen Besseren vorzuschlagen“, sagte endlich ein Kriminalpräsident von großem Gewicht, „als dort meinen Referendär Palvi; wenigstens zeugen seine Referate von sehr guter Lunge und geschmeidiger Kehle.“ Indem der Kriminalpräsident seinen eigenen Witz belachte und im Chorus sechs Juristen pflichtgemäß mit einstimmten, verbeugte sich der junge Mann, an welchen die Rede ging, während eine flüchtige Röte über sein Gesicht zog, und zur Verwunderung der Gesellschaft, die ihn sehr wenig kannte, ergriff er das Buch und die Tasche und fragte bescheiden, welcher von den Damen beides gehöre.

Dem Stallmeister, der hinter ihm stand, hatte dies längst sein scharfes Auge gesagt. Elise war flüchtig errötet, als der Onkel den Beutel emporgehoben und das Buch daraus hervorgeholt hatte. Als aber Palvi anfragte, als er mit seinem dunkeln Auge den Kreis der Damen überstreifte und bei ihr stille stand, da goß sich ein dunkler Karmin über Stirne, Wangen und den schönen Hals des Fräuleins, sie schien überrascht, verlegen, und als jene Röte ebenso schnell verflog, schien sie sogar ängstlich zu sein. „Das Buch gehört mir, Herr von Palvi“, sagte sie schnell und mit einem kurzen Blick auf ihn. „Und werden Sie erlauben, daß daraus vorgelesen wird? Daß ich daraus vorlese?“ fragte er weiter.

„Ich habe hier nichts zu bestimmen“, erwiderte sie, ohne aufzusehen, „doch das Buch steht zu Diensten.“

„Nun, dann nicht gesäumt!“ rief der Oheim. „Sessel in den Kreis und ruhig sich gesetzt und andächtig zugehört, denn ich denke, wir werden einen ganz angenehmen Genuß haben.“

Man tat nach seinem Vorschlag; in bunten Kreis setzte sich die zahlreiche Gesellschaft, und sei es, daß man auch hier Fräulein Elise als literarische Königin ansah, oder war es eine sonderbare Fügung des Zufalls, der Vorleser kam so gerade ihr gegenüber zu sitzen, daß, so oft sie die Augen aufhob, diese schönen Augen auf ihn fallen mußten.

„Aber, Freunde“, bemerkte die Dame vom Hause, dieser Roman hat, soviel ich weiß, drei Bände; wollen wir sie alle [405] anhören, so kommt unsere junge Welt heute nicht mehr zum Tanzen und wir andern nicht zum Spiel; ich denke, man wählt die schönsten Stellen aus.“

„Wer aber soll sie wählen?“ fiel ihr Gatte ein. „Das Ding ist nagelneu, niemand hat es gelesen; doch Fräulein Wilkow wird uns helfen können. Können Sie nicht schöne Stellen andeuten und uns den Faden des übrigen geben?“

Man bat so allgemein, so dringend, daß Elise nach einigem Zögern nachgab. „Der Roman“, sagte sie, „spielt, wenn ich mir die Jahreszahl richtig gemerkt habe, in den Jahren 1455–1456 in und um Marienburg in Ostpreußen. Der Deutsche Orden ist von seinen früheren einfachen und reinen Sitten abgekommen; dies und innerer Zwiespalt, wie Neid und Anfeindungen von allen Seiten her, drohen einen baldigen Umsturz der Dinge herbeizuführen, wie dann auch durch den Verrat böhmischer Ordenssoldaten, gegen Ende des dritten Teils, Marienburg für den Orden auf immer verloren geht.[1] Auf diesen geschichtlichen Hintergrund ist aber die interessante Geschichte eines Verhältnisses zwischen einem jungen deutschen Ritter und einem Edelfräulein aufgetragen. Sie ist die Tochter des Kastellans von Marienburg, eines geheimen und furchtbaren Feindes des Ordens, der, anscheinend dem Deutschmeister befreundet, nur dazu in Marienburg lebt, um jede Blöße des Ordens den Polen zu verraten. Der Roman beginnt in der Ordenskirche, wo die Ritter und viele Bewohner von Marienburg und der Umgegend bei einem feierlichen Hochamte versammelt sind, um den Tag zu feiern, an welchem vor vielen Jahren der erste Komtur[2] mit seinem Konvent[3] in dieser Burg einzog. Der letzte Meister, Ulrich von Elrichshausen[4], ein Mann, der sich dem nahenden Verderben


  1. Marienburg wurde am 6. Juni 1457 von den Polen eingenommen; die Burg war seit Anfang des 14. Jahrhunderts Residenz des Hochmeisters.
  2. Verwalter eines Gebietes.
  3. Versammlung der Ritter.
  4. Ulrich von Elrichshausen, von Hauff sehr idealisierte Gestalt des Hochmeisters Ludwig von Erlichshausen, der 1454 König Kasimir IV. von Polen gegen den Aufstand des preußischen Städtebundes zu Hilfe rief, dann aber von den Polen selbst bekriegt wurde, 1457 die Marienburg räumen mußte und nach längerem Umherirren nach Königsberg entkam, wo er 4. April 1467 starb. Er gilt in der Geschichte als „ein Mann ohne Urteil und ohne Bildung, ohne Wahrheit und Redlichkeit, ein Spielball seiner ränkevollen Umgebung, dabei von leerem Hochmut aufgeblasen, dem Trunk und allen niedrigen Lastern ergeben“.
Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke. Bibliographisches Institut, Leipzig., Wien, 1891–1909, Seite 404–405. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Wilhelm_Hauff_Bd_4_203.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)