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Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke

sein? Ist es nicht der Zweck des Romans, Charaktere in ihren verschiedenen Nuancen, Menschen in ihren wechselseitigen Beziehungen zu schildern? Und kann sich nicht ein großartiger Charakter in einer Tat, einem Zwiste erproben, der für die allgemeine Geschichte von geringerer Bedeutung ist? Oder glauben Sie, weil Tieck in die Cevennen[1] flüchtete, um einen historischen Hintergrund zu holen, er habe damit sagen wollen, unsere Geschichte biete keinen Stoff, der seines hohen Genius würdig wäre?“

„Diese ‚Ritter von Marienburg‘“, nahm der Alte das Wort, „beschäftigen sich mit keinem großartigen historischen Ereignisse. Schon fünfzig Jahre, ehe das Unglück des Ordens in Ostpreußen wirklich hereinbricht, gewahrt man, daß er sich nie mehr zu seinem alten Glanze erheben, daß früher oder später die Elemente selbst, die seine Größe beförderten, seinen Sturz bereiten werden. Er fällt, denn er hat seinen Beruf erfüllt. Aber an die geschichtliche Figur des Großmeisters, an die Täler der Nogat, an die Mauern der erhabenen Burg weiß jener Hüon Fäden anzuknüpfen, woraus er ein erhabenes Gewebe schafft. Ich möchte sagen, er baut aus den Trümmern jenes gestrandeten Schiffes eine Hütte, worin sich bequem wohnen läßt.“

„Nun verstehe ich Sie“, rief der Stallmeister, „und weil sie diesen Standpunkt nicht erreichten, weil sie diese höhere Ansicht nicht erfassen mögen, kämpfen jene Leutchen gegen diesen historischen Roman. Es ist Brotneid, sie wollen ihn nicht aufkommen lassen, weil er die Kunden an sich ziehen könnte.“

„Hat er nicht recht, der Herr Stallmeister?“ wandte sich der Magister lächelnd an seinen Nachbar. „Sie schimpfen alle aufeinander und zusammen auf jedes Größere, diese Kleinmeister. Mich freut es nur, daß mein Doktor Zundler auch bei der furchtbaren Freitags-Trias ist.“

„Ihr Doktor Zundler?“ fragte Rempen befremdet. „Kennen Sie ihn?“

„Ob ich ihn kenne?“ erwiderte der Alte lachend.

„Der Herr Stallmeister macht keinen schlimmen Gebrauch davon“, sagte Palvi zu dem Magister, „und zu größerem Verständnis [419] der Poesie ist es ihm nützlich, wenn er es weiß. Bist du es zufrieden, Alter?“

„Es sei; aber der Herr Stallmeister wird diskret sein“, antwortete der Alte.

„Was werde ich erfahren?“ fragte Rempen. „Wie geheimnisvoll werden Sie auf einmal!“

„Sie kennen den Doktor Zundler, einen der ersten Lyriker dieser Stadt“, sprach Palvi, „sein Ruhm war früher gerade nicht sehr groß, doch etwa seit einem halben Jahre regt er die Flügel mächtig. Hier sitzt der Deukalion[2][WS 1], der sie ihm gemacht hat.“

„Wie soll ich dies verstehen?“ erwiderte der Stallmeister.

„Unser Magister hier ist ein sonderbarer Kauz“, fuhr jener fort, „einer seiner bedeutendsten Fehler ist Ängstlichkeit, sonderbar verschwistert mit Gleichgültigkeit. Er hätte es weit bringen können auf dem deutschen Parnaß, aber er war zu ängstlich, um etwas drucken zu lassen. Doch wie vermöchte ein dichterischer Genius von diesem Hindernisse sich besiegen zu lassen. Er dichtete fort, für sich.“

„Ich machte Verse“, fiel der Alte gleichgültig ein.

„Du hast gedichtet!“ sagte Palvi. „Aber seine besten Arbeiten, seine gründlichsten Forschungen hat er um acht Groschen den Bogen in Journale verzettelt, weil er sich scheute, seinen Namen auf ein Titelblatt zu setzen, und von den glühendsten Poesien seiner Jugend fand ich die einzigen Spuren in halbverbrannten Fidibus. In meinen Augen bist du entschuldigt, guter Magister, durch deine Erziehung und die Art und Weise deines Vaterlandes. Wer hat sich dort zu deiner Zeit um einen Geist, wie der deine war, bekümmert? Was hat man für einen Mann getan, der nicht in die vier Kardinaltugenden, in die vier Himmelsgegenden der Brotwissenschaft, in die vier Fakultäten paßte? Haben sie ja sogar Schiller zwingen wollen, Pflaster zu streichen, und Wieland floh das Land der Abderiten[3], weil es dort keinen


  1. Ludwig Tiecks historische Novelle „Der Aufruhr in den Cevennen“ erschien 1826.
  2. Deukalion war nach der griechischen Mythologie der Stammvater der Hellenen, ein griechischer Noah, von Hauff hier als ein Schöpfer, Erzeuger zu einem verunglückten Gleichnis verwendet.
  3. In seiner „Geschichte der Abderiten“, einem satirischen Roman, der 1773 erschien, geißelt Wieland bekanntlich das Spießbürgertum der deutschen Kleinstädter, besonders das seiner Vaterstadt Biberach, wo er von 1760 ab, ehe er nach Erfurt und Weimar ging, mehrere Jahre als Stadtschreiber[211] in sehr unerquicklichen Verhältnissen lebte. Wieland verlegte in seiner Geschichte die Handlung nach der trazischen Stadt Abdera, deren Bewohner im Altertum für kleinlich und beschränkt galten.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Statt Deukalion ist wahrscheinlich Daidalos gemeint, dessen Sohn Ikaros seine künstlichen Flügel der Erfindungsgabe seines Vaters verdankte.
Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke. Bibliographisches Institut, Leipzig., Wien, 1891–1909, Seite 418–419. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Wilhelm_Hauff_Bd_4_210.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)