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Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke

als man oben, hinter den Augen denkt, so müßte Elisens Seele in dieser Stunde nach verschiedenen Richtungen sich geteilt haben. Im Hintergrund ihres Herzens flüsterten tiefe, wehmütige Töne, die Erinnerung einer schönen Zeit, sie sangen in klagenden Weisen jene Tage, wo Elise auf der ersten Stufe der Jugend das Auge des Geliebten verstand. In volleren Akkorden rauschten diese Erinnerungen, als sie von Stunden seliger Liebe, von Trennung und der Wonne des Wiederfindens sprachen. „Verloren, verloren durch seine eigene Schuld!“ weinte dann ihre Seele; „untergegangen ein so großer, schöner Geist in Leichtsinn und Niedrigkeit!“ Doch diese Gefühle schlichen nur gleich Schatten vorbei; sie suchte mit aller Gewalt des Geistes den Blick von diesen Erscheinungen abzuwenden, sie dachte an das ruhige, klare Wesen ihres zukünftigen Gatten, sein bescheidenes und doch so würdiges Betragen, seine reine Herzensgüte. Sie rief sich alles dies hervor, ja, sie versuchte zu lächeln, um freundlichere Gefühle dadurch zu erringen, aber – es gelang ihr, ruhig, doch nicht heiter zu werden.

Der Putz war vollendet, sie richtete sich vor dem hohen Spiegel auf, und die Freude an ihrer eigenen hübschen Gestalt verdrängte auf Augenblicke jene düsteren, wehmütigen Bilder. „Nein, und wenn er noch so propre angetan wäre“, sagte in diesem Augenblick das Kammermädchen, „mich soll er nicht mehr anreden dürfen!“

„Ich habe dir gesagt, du sollst nicht mehr von solchen Dingen reden“, rief Elise mit der Röte des Unmutes auf den Wangen.

„Ach Gott! gnädiges Fräulein, ich will ja auch gar nichts mehr von dem schlechten Menschen wissen; aber ich sagte nur so, weil er wieder in Herrn Kapers Laden steht.“

Elise zitterte, sie wollte von dem Spiegel hinwegeilen; aber unwiderstehlich zog es sie an das Fenster. Sie warf einen Blick hinüber, und unter jener Türe stand Zundler.

„Wie!“ rief sie, kaum ihrer Worte mächtig, der Zofe zu, „ist es denn dieser?“

„I, freilich! aber werden Sie mir nur nicht böse!“

„Und dieser auch, den du damals meintest?“ fuhr sie mit bebenden Lippen fort.

[443] „Wer denn anders?“ entgegnete jene ruhig; „aber ich weiß jetzt, er ist ein schlechter Mensch, und jetzt weiß ich auch, wie er heißt, Doktor Zundler.“

„Geh, geh, bringe die Kleider weg“, flüsterte Elise, indem sie ihr glühendes Gesicht halb bewußtlos in die Kissen des Sofas drückte; das Mädchen eilte erschrocken hinweg, und die unglückliche Braut war mit ihrem Gram allein. Welche Gefühle stürmten auf sie ein! Beschämung, Liebe, Unmut über sich selbst. Sie sprang auf; ein Gang durch das Zimmer machte sie mutiger. Sie wollte Rempen alles gestehen, sie war einen Augenblick überzeugt, er werde so edel sein, zurückzutreten, Palvi werde leicht zu versöhnen sein. Aber die Stadt wußte, daß heute ihre Verlobung sei; ihr Vater hat dem Geliebten sogar das Haus verboten; würde er jemals einwilligen, sie glücklich zu machen? Nein! Scham vor der Welt, Reue, Angst warfen sie nieder. Bleich, erschöpft und zitternd fand sie der Stallmeister, als er bald darauf ernster, als zu diesem fröhlichen Tag sich schickte, in Elisens Zimmer trat.

„Ich muß Ihnen eine sonderbare Nachricht geben“, sagte er bewegt, indem er sich zu ihr setzte und, beschäftigt mit seinen Gedanken, ihre Verwirrung nicht bemerkte. „Palvi ist weggereist, und zwar auf immer.“

„Er ist tot!“ rief sie; „gewiß, schnell, sagen Sie es nur heraus, er hat sich getötet!“

„Nein“, erwiderte Rempen, „er hat mir einen Brief zurückgelassen, worin er Sie und mich zum letztenmal begrüßt; er ist nach Frankreich gegangen. Dorthin lautet auch sein Paß, wie mir soeben mein Onkel erzählte.“

Elise schwieg; sie fühlte, daß sie in diesem Augenblick erst ihn ganz verloren habe; aber sie hatte Kraft genug, jeden Laut des Kummers zu unterdrücken.

„Doch, was Sie noch mehr befremden wird“, fuhr er fort, „jenen Roman, den Sie uns letzthin erzählt haben, hat uns der Autor selbst vorgelesen.“

„Palvi!“ rief sie in so eigenem Ton, daß der Stallmeister erschrak. „Er wäre –“

„Hüon, der Autor der ‚Letzten Ritter von Marienburg‘. Er

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Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke. Bibliographisches Institut, Leipzig., Wien, 1891–1909, Seite 442–443. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Wilhelm_Hauff_Bd_4_222.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)