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und feineres begehrt, für den ist diese Gattung der Sinngedichte, voll großen Sinnes, nicht da. So wenig die Bildsäule bekleidet und mit Farben geschmückt werden kann, so wenig paßt für erhabne, durch ihre Einfalt rührende Expositionen ein zu zugespitzter Witz oder etwa gar in jedem Distichon eine neue Pointe. Anders ists mit den gewandten Gattungen und mit jeder nach dem Maas ihrer Wendung; in ihnen wird nothwendig auch der Lichtpunct schneidender und feiner, der das Object erhellet und ordnet, der seine Theile sondert und sie aufs schönste zu Einem Ganzen verbindet. Man entkäme also dem meisten Mißverstande dieser Regeln, wenn man statt Kürze, Einheit, statt Anmuth lebendige Gegenwart und statt der Pointe den Punkt der Wirkung verlangte, der das Ganze energisch vollendet.

Leicht abzusehen ists, daß nach der gegebnen Erklärung das Epigramm sich von allen kleinen Gedichten unterscheiden lasse, die ihm am nächsten zu liegen scheinen. Wenn z. B. Anakreon singt:

Empfohlene Zitierweise:
Johann Gottfried Herder: Zerstreute Blätter, Zweite Sammlung. Carl Wilhelm Ettinger, Gotha 1786, Seite 151. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Zerstreute_Bl%C3%A4tter_II_(Herder)_151.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)