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böse Göttin beschreibt. In edeln Gemüthern gegentheils erhält auch selbst dies kalte Betrachten der Sitten andrer in ihren glücklichen Stunden seine reine Natur und da es sich weder mit dem Neide noch dem Mitleiden mischt: so wird es der schärfste Punkt ihrer Urtheilswaage. Dies ist die gute Nemesis, die kalt und gleichgültig blickt; aber auch geschont und versöhnt werden kann: denn sie ist eine unbestochene Richterin der Tugend und Wahrheit.

Und wie versöhnt man sie am würdigsten? Nicht anders, als daß man sie selbst zur Aufseherin seines Glücks und seiner Sitten macht; siehe da die Göttin mit Maas und Zaum, die den schwarzen Neid hinwegtreibt. Sie vertreibt ihn dadurch, daß sie alle beleidigenden Uebermuth hasset und die Anmaaßungen der Menschen mit ehernem Zügel bändigt: so allein wird die böse Nemesis von der guten besiegt.

Weises, lehrendes Bild! Denn in unserm ganzen Leben, was ist uns schwerer zu lernen als Maas im Glück? Dem Unglücklichen beugt

Empfohlene Zitierweise:
Johann Gottfried Herder: Zerstreute Blätter, Zweite Sammlung. Carl Wilhelm Ettinger, Gotha 1786, Seite 251. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Zerstreute_Bl%C3%A4tter_II_(Herder)_251.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)