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Das hohe nothwendige Gesetz zu sterben, war, personificirt, die Göttin des Schicksals (μοιρα, parca, Fatum, Fatus:) sie war der Hauptbegrif der Alten, wenn sie an den Tod dachten und mich dünkt, der philosophisch-würdigste Begrif, den Menschen sich über eine Bestimmung, die ihrem Willen so widrig und ihrer Natur doch so gemäß ist, machen mögen. Seitdem dieser Begrif des hohen verhängenden Schicksals aus dem Gemüth der Menschen vertilgt ist, schleicht ihre Seele mit Blicken kleiner vorsichtigkeit und mit Aengsten einer niedrigen Duldung einher. Um einige Tage mehr zu leben, leben wir oft gar nicht, indem wir weder dem ordnenden Schicksal voll Gerechtigkeit und Güte, noch der eisernen Nothwendigkeit trauen. Die Griechen nicht also. In Homer und allen Tragikern ist es das Schicksal, welches das Loos wirft, Jupiter welcher wägt und die Parce, die da schneidet. a)[1]


  1. a)So läßt Homer sogar die κηρε zweier Heere vom [297] Jupiter wägen ([?] 70.) denn hier in vielen andern Stellen bedeutet κηρ sowohl den schwarzen Tod selbst, als das Schicksal.
Empfohlene Zitierweise:
Johann Gottfried Herder: Zerstreute Blätter, Zweite Sammlung. Carl Wilhelm Ettinger, Gotha 1786, Seite 296. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Zerstreute_Bl%C3%A4tter_II_(Herder)_296.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)