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kein Wechselbegriff zum Humanismus sein, und ebensowenig ein kulturphilosophischer Typenbegriff, sondern die Bezeichnung für eine Periode italienischer Geschichte, die etwa von 1250–1550 reicht. Ihr politisch–soziales Kennzeichen, das allein für die historische Begriffsbestimmung in Betracht kommt, ist das Emporkommen des Stadtstaats. Damit können wir die von der Kunstentwicklung hergenommene Bezeichnung Renaissance in einem andern historisch brauchbaren Sinne beibehalten. Denn was hier in Italien wieder auflebt, und zwar nur hier, ist die Polis der Antike. Wie diese, so beruht auch der Stadtstaat der italienischen Renaissance auf der Einschmelzung der Stände in den Bürgerbegriff. Damit und nur dadurch wird der Stadtstaat der Renaissance ein besonderes Gebilde innerhalb der feudal-hierarchischen Ordnung des Mittelalters. – Wie die Polis der Antike strebt der Stadtstaat der Renaissance zur Autonomie und Autarkie nach außen, zu einer ersten rationalen, nicht bloß auf Gewohnheit und Herkunft beruhenden Durchbildung seines Lebens im Innern. Damit wird die Renaissancepolis das erste individualistische Gebilde der abendländischen Welt. Das heißt, ein solches, welches innerhalb des transzendentalen organischen Systems des Mittelalters sich seinen Lebensspielraum nach den Interessen des eigenen Daseins absteckt, nicht nach seiner Stellung als Glied des Systems. Gleichzeitig entwickelt sich in diesem Italien der Kommunen ein neuer, individualistischer Menschentypus, der zunächst in den Tyrannen der Renaissance sichtbar wird. Es sind Menschen, die nicht etwa mehr „Individuen“ sind als die des Mittelalters, aber solche, die ihr egoistisches Menschentum zu bejahen und es zum Maßstab ihres Lebens zu nehmen wagen. Das will die berühmte Formel Jacob Burckhardts sagen, daß es hier in diesem Italien des 13. Jahrhunderts staatliche Gebilde gibt, Städte und Gewaltherrscher, „deren Dasein rein tatsächlicher Art war“, und die andere, daß hier zuerst der aus Glauben, Kindesbefangenheit und Wahn gewobene Schleier in die Lüfte verweht sei, der den Menschen sich bisher nur als Rasse, Volk, Partei, Korporation, Familie oder in irgendeiner Form des Allgemeinen habe erkennen lassen.

Ich halte diese Formel auch gegenüber allen modernen Mißverständnissen noch für vollkommen richtig und für die einzig zutreffende Bezeichnung dessen, was man den Geist der Renaissance – Renaissance als Kulturepoche genommen – nennen kann. Man

Empfohlene Zitierweise:
Paul Joachimsen: Der Humanismus und die Entwicklung des deutschen Geistes. Aus: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 8. 1930, Seite 426. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_humanismus_(joachimsen)_008.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)