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muß nur nicht glauben, daß diese „individualistische Kultur“ bedeuten solle, daß es früher weniger oder in geringerem Maße individuelle Gebilde und Menschen gegeben habe, und auch nicht, daß dieser Individualismus einen Bruch mit dem organischen System des Mittelalters bedeute. Im Gegenteil, der Individualismus der Renaissance setzt, wie jeder andere, das System voraus. Er braucht es, um zum Bewußtsein seines zunächst tatsächlichen Andersseins zu kommen. Dies Bewußtsein führt zu dem, was die individualistische Renaissance von den rein triebhaften Selbstbehauptungen der Urzeiten aller Völkerentwicklung unterscheidet, führt zu der rationalen Durchbildung des eigenen Lebenskreises, führt zu einem ersten Weltbild, das die Welt in die beiden Machtbezirke der ratio und der fortuna auseinanderlegt, und zu einem ersten Versuch der Sinngebung dieses rein tatsächlichen Daseins innerhalb des Systems durch die Idee der virtù.

Die Epochen in der Geschichte der Renaissancepolis sind nun zunächst solche ihrer sozialpolitischen Entwicklung. Wir unterscheiden hier mit den italienischen Historikern die Zeit der Kommunen, der Signorien und der Prinzipate. Dann solche der ökonomischen Entwicklung. Sie beruhen auf der Durchdringung dieser Gemeinwesen mit den Formen des Kapitalismus. Endlich – für uns das Wichtigste –, solche der ideologischen Rechtfertigung. Das Bedürfnis nach einer solchen ergibt sich aus der fortdauernden Zugehörigkeit der Polis zu dem kriegerisch-priesterlichen Gemeinwesen der abendländischen Christenheit, der res publica christiana, und ferner aus dem Verhältnis der neuen ratio zu der Tradition und den Autoritäten des transzendentalen Systems.

Eine erste solche Rechtfertigung findet die Renaissancepolis in einer Umbildung des römischen Rechts, wie sie die Praxis der Notare bietet, für uns am deutlichsten in der merkwürdigen Gestalt des Magister Boncompagno aus Bologna erkennbar[1], und in der Astrologie, die, aus der sizilisch-arabischen Mischkultur des letzten Hohenstaufenhofes sich erhebend, nun auch das Reich der fortuna berechenbar und damit bezwingbar machen soll[2].

  1. S. über ihn C. Sutter, Aus Leben und Schriften des Magisters Boncompagno. Freiburg 1894. Dazu Baethgen in der Deutschen Vierteljahrschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte Bd. 5, S. 37 ff.
  2. Darüber Gutes bei Robert Davidsohn, Geschichte von Florenz. 4. Bd. Die Frühzeit der Florentiner Kultur. Berlin 1921.
Empfohlene Zitierweise:
Paul Joachimsen: Der Humanismus und die Entwicklung des deutschen Geistes. Aus: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 8. 1930, Seite 427. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_humanismus_(joachimsen)_009.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)