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Daseins findet[1]. Es handelt sich um die Ausgleichung dieser rationalen Fähigkeit des menschlichen Geistes mit der auf Intuition beruhenden Gewißheit eines organischen Zusammenhangs der Welt in sich und mit dem Individuum, um die Probleme der theologischen und mathematischen Unendlichkeit; schließlich um die Widerspiegelung dieses Weltbildes in einer Staats- und Gesellschaftskonstruktion, die principaliter und finaliter transzendent ist und doch auf dem Naturrecht aller Glieder des Gemeinwesens ruhen soll.

Es ist nicht weniger charakteristisch für den deutschen Geist, daß ein solcher Mensch den lebendigsten Anteil an dem humanistischen Forschungstrieb des Italien seiner Zeit hat, wie daß er nicht das geringste Bedürfnis empfindet, sich aus der so geschauten Antike Formen oder Normen für die Gestaltung der Persönlichkeit oder ihres gesellschaftlichen und staatlichen Daseins zu entnehmen, daß der Cusaner in der Form seiner Schriften ein Scholastiker bleibt und daß sein letztes Ziel ein spezifisch „katholisches“, – dies Wort in seinem etymologischen Sinn genommen – ist, die coincidentia oppositorum[2].

Wir wollen nicht erörtern, ob nicht auch von hier aus eine humanistische Kulturforderung möglich gewesen wäre, etwa von der christlichen Antike her, die wir in ihrer Wichtigkeit für die Geschichte des deutschen Humanismus noch kennen lernen werden. Genug, daß es nicht geschehen ist, daß der Cusaner wohl eine neue Bewußtseinshaltung des deutschen Geistes bedeutet, aber nicht ein neues Prinzip der Bildung, wie es in Italien Petrarca geschaffen und zu einer neuen Lebensform entwickelt hat.

Der deutsche Humanismus als geschichtliche Bewegung beginnt erst mit einer Auseinandersetzung mit Italien, und in diesem Sinne bleibt Enea Silvio de Piccolomini wirklich sein Apostel in Deutschland[3]. Er ist sein eigentlicher Anfänger geworden.

  1. Complementum theologicum cap. 2 [Cassirer l. c. 26¹]: Est speculatio motus mentis de ’quia est’ versus ’quid est’ [Sein und Wesen]. Sed quoniam ’quid est’ a ’quia est’ distat per infinitum, hinc motus ille nunquam cessabit. Et hinc in se habet hic motus quietem; movendo enim non fatigatur, sed inflammatur.
  2. S. dazu auch Stadelmann 38¹.
  3. Wir sind für ihn über die große Monographie von Georg Voigt (Berlin 1856 ff.) noch wenig hinausgekommen. Für die Persönlichkeit Joh. Haller in der Deutschen Revue 1912. Ein paar Ansätze zu geistesgeschichtlicher Würdigung in Max Mells Einleitung zur Übersetzung der Briefe (Jena, Diederichs 1911).
Empfohlene Zitierweise:
Paul Joachimsen: Der Humanismus und die Entwicklung des deutschen Geistes. Aus: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 8. 1930, Seite 435. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_humanismus_(joachimsen)_017.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)