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Montaigu an der Sorbonne in Paris. Die positiven seine Aufenthalte in England und seine Fahrt nach Italien. Dabei soll der Klosteraufenthalt den Punkt bedeuten, wo Erasmus der Mönchsfrömmigkeit absagt, die Pariser Studienzeit den Punkt, wo er seinen Bruch mit der Scholastik vollzieht. In England tritt dann an Stelle der Scholastik das praktische und platonisch orientierte Christentum Colets, in Italien die volle Anschaung der griechischen Antike, vermittelt durch die Academia Aldina in Venedig, und die Bekanntschaft mit der Humanität als gesellschaftlicher Form, gewonnen in den Kardinalkreisen des Roms Julius II.

Doch muß man bei diesen Aufstellungen einige Einschränkungen und Zusätze machen. Daß Erasmus im Kloster ein Feind des Mönchstums, in Paris ein Gegner der Scholastik geworden sei, sind Vorstellungen, die er später selbst gehabt, nach denen er sein Leben in erinnerndem Rückblick pragmatisiert hat[1]. Die Zeugnisse, die wir aus dem Kloster und der Studienzeit selbst haben, bestätigen das nicht oder nur zum Teil. Und ebenso genügen Einflüsse, die wir von John Colet und dann von Italien aus aufzeigen können, nicht, um die Besonderheit des erasmischen Geistes zu erklären: eine im Grunde mystisch gedachte Frömmigkeit, die doch in rein aufklärerischen Denkformen und besonders mit rein aufklärerischen Tendenzen arbeitet. Auch wenn wir für den letzten Punkt die zweifellos stärkste Wirkung in Anschlag bringen, die Erasmus erfahren hat, nämlich die des Lorenzo Valla[2], so bleibt doch noch die Frage naheliegend und berechtigt, ob nicht dieser so eigentümliche Geist schon aus den einheimischen Tendenzen der Niederlande oder aus besonderen Formen ihrer geistigen Entwicklung erklärt werden müßte.

In der Tat zeigt die niederländische Geistesart noch heute diejenigen Züge, die wir bei Erasmus finden, einen starken Drang zu mystischer Frömmigkeit neben einer scharf rationalen Denkweise. Beide Tendenzen sind auch im 15. Jahrhundert schon

  1. Darüber bis jetzt das Beste bei Paul Mestwerdt, Die Anfänge des Erasmus (Leipzig 1917) S. 29 f. – Die sehr solide Vita di Lorenzo Valla von Girolamo Mancini (Firenca 1891) sieht doch die Dinge zu sehr vom Standpunkt des (damals) modernen italienischen Liberalismus.
  2. S. im allgemeinen die vorzügliche Darstellung bei W. Pirenne, Gesch. Belgiens. Deutsch von Arnheim. Bd. 3 (Gotha 1907), S. 360 ff. ’Die Renaissance’. Dazu etwa Kalff, Westeuropeesche Letterkunde. 2 Bde. Groningen 1923.
Empfohlene Zitierweise:
Paul Joachimsen: Der Humanismus und die Entwicklung des deutschen Geistes. Aus: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 8. 1930, Seite 452. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_humanismus_(joachimsen)_034.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)