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literarisch entwickelt. Neben dem Reinicke Fuchs steht eine religöse Lyrik, die an Innigkeit mit jeder andern wetteifern kann, sie an Volksnähe übertrifft. Aber für die Erklärung des erasmischen Geistes wird eine andere Frage wichtiger, die nach der Bedeutung der Brüder vom gemeinsamen Leben[1]. Sie für Erasmus zu stellen, sind wir schon deshalb berechtigt, weil er ja ihre Schule in Deventer besucht, sich seiner Lehrer Hegius und Agricola oft besonders gerühmt hat. Aber bekanntlich hat diese Frage noch eine weitere Bedeutung. Es hängt damit zusammen, ob wir annehmen dürfen, daß die Brüder vom gemeinsamen Leben allgemein wichtig für die Ausgestaltung des Humanismus geworden sind, ob man etwa gar von einer nordischen Wurzel des Humanismus reden kann, die der italienischen an Bedeutung gleichkäme. Es wäre dann also nötig, neben dem ersten von uns geschilderten Anfang des Humanismus mit Petrarca einen zweiten, selbständigen, mit Geert Grote zu stellen. Es käme auch in diesem Falle nicht darauf an, ob in den Vereinigungen und Schulen der Brüder mehr oder weniger antike Schriftsteller gelesen, abgeschrieben, späterhin gedruckt worden sind, sondern wiederum nur darauf, ob die Antike eine besondere Rolle bei der Formung und Normierung der Kulturwerte gespielt hat, welche die Brüder zu Idealen ihres Lebens erhoben haben. Und das läßt sich wenigstens für die christliche Antike, wenn auch mit Vorsicht und einiger Einschränkung, bejahen. Denn so sicher es ist, daß die Gründungen Geert Grotes und seines Schülers Florentius Radewinsson zunächst nichts als Schößlinge von dem großen Baum der monachalen Reform sind, und so wichtig es ist, daß die von den Brüdern gegründeten und beeinflußten Schulen zunächst ganz in den Bahnen der scholastischen Lehrtradition verblieben sind und auch später nichts Grundsätzliches reformiert haben[2], ebenso bestimmt können wir doch sagen, daß bereits die erste Absicht Geert Grotes – eine Nachahmung des apostolischen Lebens ohne Bindung an eine Regel,

  1. Die älteren Ansichten über die Brüder vom gemeinsamen Leben diskutiert erschöpfend L. Schulze in der Realenzyklopädie f. prot. Theologie u. Kirche Bd. 3 und 23 der dritten Auflage. Dazu wiederum Mestwerdt und für das neue phantastische Buch von Hyna, The christian renaissance, die Besprechung von Hans Baron in der Hist. Zs. Bd. 132 (1925) S. 413 ff.
  2. Das geht auch aus den Angaben des Erasmus über seinen Bildungsgang hervor, z. B. Allen Bd. I, S. 48.
Empfohlene Zitierweise:
Paul Joachimsen: Der Humanismus und die Entwicklung des deutschen Geistes. Aus: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 8. 1930, Seite 453. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_humanismus_(joachimsen)_035.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)