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Er entwirft für den neuen Wissenschaftsbetrieb ein System, das in genialer Weise die humanistischen Disziplinen zu einem Ganzen zusammenordnet, und hat doch gar keinen Glauben an die Vernünftigkeit des Weltgeschehens. In seiner Geschichtsdarstellung macht es ihm die schwersten Gedanken, wie es kommen konnte, daß die groben und unsinnigen Deutschen, die noch dazu Heiden waren, das große römische Reich, den Hort der Künste und Wissenschaften und damals auch schon Sitz des Christentums, haben unterwerfen können. Und seine Erklärung läßt für das eigene Volk doch keine andere Rolle übrig als die einer Zuchtrute in der Hand Gottes, dieselbe Rolle, die er in seiner Gegenwart den Türken zugeteilt sieht. –

Man würde die geschichtliche Bedeutung dieser Dinge doch wohl zu gering einschätzen, wollte man sie nur als Äußerungen eines leidenschaftlichen Gemüts ansehen, das umsonst nach Klärung der es bedrängenden Gedankenmassen ringt. Sie sind vielmehr die Signatur der Zeit selbst. Es ist der Zustand des deutschen Geistes an der Schwelle der Reformation. –

Und nun kommt die Reformation selbst. Die größte geistige Umwälzung, die je ein Volk des Abendlandes erlebt hat. Sie bringt wirklich eine Umwertung aller Werte. Sie zwingt alle alten Lebensmächte sich an ihr neu zu orientieren. Sie stellt auch die humanistische Bewegung vor ein neues Problem, das letzte in dem Gange unserer Betrachtungen.

Will man die Reformation in ihrer Bedeutung für den deutschen Geist würdigen, so muß man festhalten, daß sie in ihrem Ursprunge nicht Kirchenreform war, sondern Glaubenserneuerung. Man muß hinzunehmen, daß diese Glaubenserneuerung in ganz einziger Weise die Tat eines Einzelnen war und daß sie aus dem seelischen Bedürfnis, der seelischen Not dieses Einzelnen erklärt werden muß. In dieser seelischen Not war Luther zwar mit einem tiefsten Grundgefühl der Zeit, der Sündenangst, verbunden, – wie hätte er sonst ins Weiteste wirken können? – aber die Anliegen, mit denen er an die religiöse Überlieferung herantrat, waren von dem selbstbewußten, aufklärerischen Geiste der Zeit ebenso verschieden, wie es der Weg, den er in seinem Ringen um den gnädigen Gott suchte und schließlich fand, von dem Wege war, auf dem die religiösen Volksinstinkte ihre Befriedung suchten. Man muß dies Unzeitgemäße in Luther aufs stärkste betonen um die Problematik zu

Empfohlene Zitierweise:
Paul Joachimsen: Der Humanismus und die Entwicklung des deutschen Geistes. Aus: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 8. 1930, Seite 467. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_humanismus_(joachimsen)_049.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)