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verstehen, die uns die Reformation als geschichtliche Bewegung aufgibt. Das gilt in besonderem Maße für die Problematik, die in dem Verhältnis von Reformation und Humanismus liegt.

Wir sahen, die humanistische Religiosität hatte in ihrer letzten und reifsten Form, der erasmischen, das klar erkannte Ziel, die Religion zu vermenschlichen. Sie wollte den Weg zu Gott leicht, nicht schwer machen, die Nachfolge Christi in einen Bildungsvorgang verwandeln, die moralischen Forderungen der Erlösungsreligion zum eigentlichen Lebensinhalt für den Christen machen, sie wollte vor allem einen neuen Ausgleich zwischen dem Reich des Glaubens und dem der Vernunft schaffen, der auf einer prästabilierten Harmonie beider beruhte. Sie machte sich anheischig, mit den Mitteln der Allegorie dem Worte Gottes einen überall gleichen, überall vernünftigen Sinn zu geben.

Und nun Luther, der seine erste religiöse Sicherheit aus der paradoxen Erkenntnis gewinnt, daß die Gerechtigkeit Gottes zugleich seine Gnade sei, dessen Gott wieder der deus tremendus et abconditus ist, dessen Christus nicht der weiseste aller Philosophen, nicht der wahre Έπίκουρος ist, dessen Nachfolger ebensowenig „melancholisch“ sein dürfen, wie er selbst, sondern der einfach der Erlöser von Sünde und Tod ist. Luther, dessen Theologie sich auf einen vollständigen und durchgehenden Gegensatz von Vernunft und Glauben aufbaut, und dessen Vorstellung von der Einheit der Schrift darin ruht, daß Gottes Wort überall und immer von nichts anderm handeln kann als von dem Vorgang der Erlösung selbst, von dem Gegensatz von Sünde und Gnade, Gesetz und Evangelium.

Wie entgegengesetzt ist dies alles einer religiösen Humanität, die von der Würde des Menschen, von der Perfektibilität seines Geistes ausgeht! Es gehört zu den frühesten Erkenntnissen der Theologie Luthers, daß er sich dieses Gegensatzes bewußt wurde[1].

Dennoch ist dies nur die eine Seite des Verhältnisses von Humanismus und Reformation. Es ist bekannt, aber auch in allen Einzelheiten nachweisbar, daß die Reformation als geschichtliche Bewegung von dem Humanismus ein gutes Stück Weges getragen worden ist. Ohne den romantischen Patriotismus und die von ihm

  1. S. den berühmten Brief an Spalatin vom 19. Oktober 1516. Enders, Luthers Briefwechsel Bd. 1, Nr. 28. Für die angemeinen Gegensätze zwischen Renaissance, Humanismus und Reformation siehe meinen Aufsatz in der Zeitwende 1928, S. 402 ff.
Empfohlene Zitierweise:
Paul Joachimsen: Der Humanismus und die Entwicklung des deutschen Geistes. Aus: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 8. 1930, Seite 468. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_humanismus_(joachimsen)_050.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)