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Dauer als unmöglich. Schon bei Melanchthon selbst melden sich die bei ihm ursprünglich wirksamen Kräfte des Moralismus und des Intellektualismus wieder, die nur der Sturm der ersten Begeisterung zu Luthers Lehre unterdrückt hatte. Sie führen bei ihm selbst zu einer immer stärkeren Verselbständigung der philosophischen Sittlichkeit, sie wird ein immer breiterer Unterbau der theologischen. Es entsteht eine neue protestantische Scholastik, in der Aristoteles wieder seinen Platz hat und Cicero neben ihm, beide propter certitudinem principiorum. Die Lehre vom natürlichen Licht und von den angeborenen Allgemeinbegriffen der Erkenntnis wird innerhalb des Systems selbst je länger je wichtiger[1]. Sie haben es schließlich gesprengt.

Das melanchthonische Wissenschaftssystem ist die letzte Form der Auseinandersetzung des reifen Humanismus mit dem deutschen Geiste. Um 1550 ist die humanistische Bewegung zu Ende. Was weiter lebt, vor allem in Schuldrama und Hofdichtung, ist Weiterschleppen von Formen ohne neuen Inhalt. Gleichzeitig geht die Fähigkeit des deutschen Geistes, fremde Stoffe einzudeutschen, zu Ende. Die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts ist zwar durchaus nicht so leer an geistigen Inhalten, wie man sie sich immer noch vorstellt, aber sie ist Epigonentum, Auflösung. Die neuen Richtungen, die in die Zukunft weisen, der Ramismus, der Cartesianismus, der Pietismus erfordern einen neuen Blickpunkt der Betrachtung.

Was ist nun das Ergebnis des humanistischen Jahrhunderts, das wir durchmessen haben?

Man hat es wohl als die eigentliche Wirkung des Humanismus auf den deutschen Geist bezeichnet, daß er Deutschland in die beiden Schichten der Gebildeten und Ungebildeten zerrissen, die alte Einheit der nationalen Bildung zerstört habe. Friedrich Paulsen hat diesen Vorwurf lebhaft erhoben. Er klingt in den Deklamationen der modernen Gotiker nach, die mit der bei ihnen üblichen Verwirrung der Begriffe eine angebliche Renaissance für den Verfall des deutschen Geistes verantwortlich machen. Es ist doch merkwürdig, wie diese Meinung hat entstehen können. Wo war denn

  1. Hier schlagen die Forschungen Diltheys ein (jetzt Ges. Schriften Bd. II, Leipzig, Teubner 1914), bes. Das natürliche System der Geisteswissenschaften, die aber jetzt erheblich zu korrigieren sind.
Empfohlene Zitierweise:
Paul Joachimsen: Der Humanismus und die Entwicklung des deutschen Geistes. Aus: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 8. 1930, Seite 476. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_humanismus_(joachimsen)_058.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)