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eine Physik des Himmels, die Anfänge einer selbständigen Bewältigung des Rechtsstoffs, eine Laientheologie in ihren verschiedenen Ausprägungen, eine freilich sehr naive, aber ganz deutsch orientierte Sprachwissenschaft. Und in all diesen Erzeugnissen ist ein Gefühl der Eigenständigkeit, so wie wir es am Anfang der Periode nirgendwo finden. Dem entspricht eine allgemeine Erweiterung der geistigen Interessen. Man sieht sie, wenn man auch nur den beängstigend langen Katalog der Lesestoffe durchblättert, die Hans Sachs auf seinem poetischen Hackbrett verarbeitet hat.

Was an jenem Vorwurf gegen den Humanismus berechtigt ist, glaube ich bereits in dieser Betrachtung gesagt zu haben. Es liegt in dem neuen Begriff der Bildung, den der Humanismus geschaffen hat. Einer Bildung, die sich zwischen die Menschen und das Leben schiebt, und sich anheischig macht, dieses Leben nach den Prinzipien der Bildung zu formen und zu normieren. Aber das ist ein allgemein europäischer Vorgang, und wir finden seine Auswirkungen viel deutlicher in der Naturphilosophie der Italiener, dem Skeptizismus und Rationalismus der Franzosen, dem Empirismus der Engländer, der Philologie der Niederländer, als in dem so ausgesprochen theologisch bleibenden Deutschland des ausgehenden 16. und des beginnenden 17. Jahrhunderts. Man würde eine solche Wirkung vielleicht gar nicht in Deutschland suchen, wenn nicht Goethe diesen Bildungsbegriff klassisch formuliert hätte. Ich meine die Worte:

 Wer Kunst und Wissenschaft besitzt,
 Der hat auch Religion.
 Wer diese beiden nicht besitzt,
 Der habe Religion.

Aber dies ist die Formel des zweiten Humanismus, der Humanität geworden war, d. h. von einem neuen Menschheitsbegriff ausging, und auch da sollte er nur für ein höchstes, sehr vergeistigtes Menschentum gültig sein. Dieses Menschentum hat der erste Humanismus nie besessen, mehr noch, er hat es nie erstrebt. Es gibt keinen Humanisten des ersten Humanismus, bei dem man es wirklich nachweisen könnte. Vielleicht ist es überhaupt ein Irrtum, wenigstens, so glaube ich, wäre es sehr bedenklich, wenn der dritte Humanismus, der heute verkündet wird, es unter so ganz anderen Verhältnissen erneuerte. Bildung als Religionsersatz hat heute – glücklicherweise – weniger Aussichten als je.

Empfohlene Zitierweise:
Paul Joachimsen: Der Humanismus und die Entwicklung des deutschen Geistes. Aus: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 8. 1930, Seite 478. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_humanismus_(joachimsen)_060.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)