Seite:Denkwürdigkeiten einer deutschen Erzieherin in Belgien, England, Spanien, Portugal, Polen und Deutschland.pdf/99

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lieben Gott einen Plan vorschreiben, wie er die Welt hätte schaffen, die Menschheit erlösen und sich seines Herrscheramtes entledigen sollen. Sie fordern, daß Gott ihnen eine buchstäbliche und chronologische Auseinandersetzung seiner unzählichen Wunder, vor denen sich die Cherubim in Ehrfurcht verhüllen, hätte liefern sollen, und weil der Zeitraum, welcher für die Erschaffung der Welt gegeben ist, nicht mit den tausenden von Jahren übereinstimmt, welche sie für die Bildung der verschiedenen Erdkrusten erforderlich halten, so verwerfen sie die Bibel als ein Machwerk der Menschen. Wenn sie aber das alte Testament im Urtext läsen, und diesen mit andern orientalischen Sprachen verglichen, so würden sie finden, daß sie sämmtlich sehr bilderreich und poetisch sind, oft einen Gegenstand für den andern nennen, und daß daher z. B. das Wort Tag oft einen unbestimmten Zeitabschnitt bedeutet, was schon durch den Satz erklärt wird: Tausend Jahre sind vor Gott wie ein Tag. Jede Stelle der Bibel hat zwei Bedeutungen, eine geistige und eine buchstäbliche, welche zu den entgegengesetztesten Folgerungen veranlassen können; die darin enthaltenen Offenbarungen bezwecken keine chronologische Reihenfolge der Dinge in der Vergangenheit, sondern eine der menschlichen Vernunft angemessene Schilderung derselben. Wenn daher die Wissenschaften den historischen Theil der Schrift bekriegen, so erhebt sich der prophetische um so erhabener über die menschliche Kritik, und derjenige, welcher den Schlüssel dazu besitzt, der wird auch für die widersprechendsten Stellen Erklärungen finden. Kurz, ich bin überzeugt, daß der Zweifel an der heiligen Schrift stets aus einer oberflächlichen Kenntniß oder einem mangelhaften Verständniß derselben entsteht. Es ist schön, die Religion mit den Wissenschaften zu vereinigen; wer dieses nicht kann, ist ein sehr beklagenswerther Mensch, verfehlt sein höchstes Vorrecht und wird, wenn die Religion aufgehört hat, die Richtschnur seines Lebens zu sein, bald einem ruderlosen Schiffe gleichen, welches, von den Winden seiner Leidenschaften getrieben, ein Raub der Wellen wird. Und es ist beruhigend, zu wissen, daß die gelehrtesten Menschen stets die frömmsten waren.“

„Die Heftigkeit, erwiederte die Miß, mit der Sie Ihre Sache verfechten, beweist mir schon, daß Sie sich selbst nicht sicher fühlen, wie denn überhaupt kein Mensch in den göttlichen Dingen sicher ist. Sonst würde ja auch nicht der blinde Glaube als Hauptbedingung an die Spitze des ganzen Religionssystems gestellt; ja, im protestantischen Lehrbegriffe