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Walther Kabel: Der Doppelgänger. In: Zeit im Bild, Jahrgang 1908, S. 59, 82–84, 106–108, 130–132, 154–156, 178–180, 202–204, 226–228, 250–252, 274–276, 298–300, 322–324, 346–348, 370–372, 394–396, 418–420, 442–444, 466–468, 490–492

rauchte schweigend seine schwere Havanna und Werres schaute nachdenklich in das rot verhüllte Licht des auf dem Tische brennenden Lämpchens.

Sie hatten sich früh getrennt, und Werres saß dann lange allein in seinem stillen Zimmer und überdachte den kommenden Tag. Dieser Tag war nun da; aber die Nacht hatte ihm keine ruhigere Stimmung gebracht. Tolle, zusammenhanglose Traumbilder ließen sein überanstrengtes Hirn nicht zur Ruhe kommen. Als er jetzt am Fenster stand und herausschaute in die regennasse Straße, sah, wie die Regentropfen die Scheiben hinabrannen … wie Tränen, dachte er – dieselben Regentropfen, die unaufhörlich knatternd der Sturm gegen die Fenster trieb, da fühlte er wieder diese seltsame, unbestimmte Angst, diese bange Ahnung vor etwas, das ihn bedrohte und das er nicht von sich abzuwehren vermochte … Dann brachte ihm die korpulente, stets vergnügte Frau Meier den Kaffee; und während sie aufräumte, schwatzte sie unaufhörlich, erzählte ihm den neuesten Hausklatsch und Werres war’s heute wie eine Wohltat, daß sie ihn so von seinen Gedanken ablenkte.

Der Kriminalbeamte Grosse stellte sich pünktlich ein. Er hatte sein listiges Vogelgesicht in beinahe feierliche Falten gelegt. Der war über Bedenken, über Seelenkämpfe, wie sie Werres durchgemacht, längst hinaus. Er berichtete kurz, daß er die Bestellung an den Kommissar ausgerichtet und auch die Briefe besorgt habe. Und dann fügte er hinzu: „Freuen tue ich mich auf diese Geschichte heute, Herr Doktor! – Sie wissen gar nicht, wie dankbar ich Ihnen bin, daß ich mitmachen darf. Und die Hauptsache ist ja für mich – ich werde nun endlich erfahren, wie Sie das alles so fein herausbekommen haben, Sie ganz allein; denn der Herr Kommissar“ – Grosse lächelte überlegen – „der hoffte noch gestern, daß er von Turski aus Scherwinden bald bessere Nachrichten haben würde. Außerdem hat er sich mit seinem Freunde Behrent erzürnt – der muß doch irgend eine Dummheit gemacht haben und ist doch sonst so überschlau!“

Werres mußte unwillkürlich lachen. Er dachte an Freitag abend, an die Szene im Restaurant Helfrich zurück, wie Behrent so gedrückt fortgeschlichen war, nachdem er ihm so unzweideutig zu verstehen gegeben hatte, daß er ihn nicht nur erkannt, sondern auch durchschaut habe.

Inzwischen fuhr unten der Taxameter vor, den Werres durch Grosse hatte holen lassen. Er rief dem Kutscher eine Adresse zu und stieg ein. Schweigend saßen die beiden nebeneinander, jeder mit seinen Gedanken beschäftigt. Dann hielt der Wagen

„Sie bleiben sitzen, Grosse,“ – befahl Werres kurz. Und dem Kutscher rief er nur zu – „Warten!“ – Dann verschwand er in der Haustür. – Grosse, der anfangs geglaubt hatte, daß sie nach dem Friedrichsschen Bankgeschäft fuhren, sah bald, daß sie Straßen eines anderen Stadtviertels kreuzten. Jetzt lehnte er sich hinaus, schaute sich neugierig das Haus an, in dem[1] der Doktor verschwunden war. Der Wagen hielt in der Werterstraße vor dem Gebäude, in dem die Frau verwitwete Rechnungsrat Schwarz wohnte. – „Was will er denn hier?“ fragte sich der Beamte. Aber eine Antwort fand er nicht.

Werres hatte an der Tür oben geklingelt und dann durch die ihm öffnende Aufwärterin seine Karte hineingeschickt. „Sagen Sie der gnädigen Frau, ich müßte sie unbedingt sprechen,“ hatte er der Frau bestellen lassen. Er wurde in eine mit altmodischen Möbeln eingerichtete, sogenannte gute Stube geführt und setzte sich mit einem leisen Seufzer in einen der verschossenen Sessel. Das Schwerste dieses Tages stand ihm jetzt bevor … das Allerschwerste! Würde er die richtigen Worte finden, um hier seine Mission so durchzuführen, wie er sich’s vorgenommen hatte …?! Doch um seinen trüben Gedanken weiter nachzuhängen, blieb ihm keine Zeit. Die Tür öffnete sich und eine grauhaarige Matrone, mit einem Leidenszuge um den Mund, stand vor ihm. Er erhob sich.

„Gnädige Frau werden verzeihen, daß ich Sie zu so früher Stunde belästige. Aber eine unaufschiebbare, sehr ernste Angelegenheit führt mich zu Ihnen.“ – Die alte Dame, der man bisher nur eine leise Verlegenheit angemerkt hatte, sah ihn erschreckt an.

„Bitte, gnädige Frau, wollen Sie mir vielleicht gestatten, an Ihr Fräulein Tochter einige Fragen zu richten,“ fuhr er fort, ohne die Frau Rat zu Wort kommen zu lassen.

„Meine Tochter … ich verstehe Sie nicht, Herr Doktor …?“ meinte die Matrone würdevoll. Sie hatte ihre Fassung wiedergefunden.

„Sie haben wohl auf meiner Karte gelesen, gnädige Frau, wer ich bin. Ich komme in – amtlicher Eigenschaft zu Ihnen. Also wollen Sie bitte meinem Wunsche willfahren.“

Frau Schwarz hatte die Visitenkarte noch in der Hand. Sie überflog sie schnell.

„Amtlich? – verstehe ich recht – der Herr ist von der Polizei?“ sagte sie nun wieder erschreckt.

„Jawohl, gnädige Frau.“ – Werres zog seine Uhr. Es war wenige Minuten nach ¼11. „Meine Zeit ist knapp, bitte, wollen Sie Ihr Fräulein Tochter herbitten,“ meinte er höflich aber bestimmt. Kopfschüttelnd verließ die Dame das Zimmer. Werres blieb stehen und schaute vor sich hin. Nun kam das Schwere, vor dem ihm bangte … Und dann öffnete sich wieder die Tür und Mutter und Tochter erschienen.

Dr. Werres,“ stellte er sich selbst vor und fragte dann die Damen, ob er Platz nehmen dürfe. Man setzte sich – Werres absichtlich so, daß sein Gesicht im Schatten war, während er die wunderbar feinen, mädchenhaft weichen Züge Fräulein Schwarz’ von dem dämmerigen Tageslicht voll getroffen vor sich hatte.

„Gnädiges Fräulein,“ – begann er ohne Umschweife direkt auf sein Ziel zugehend –, „Sie sind mit Herrn Willert heimlich verlobt. Ihr Herr Bräutigam hat Ihnen vor ungefähr acht Tagen etwas zur Aufbewahrung übergeben, bitte, wollen Sie mir diesen Gegenstand aushändigen.“

Die junge Dame war aufgesprungen und die Mutter saß vor Erstaunen erstarrt in ihrem Sessel.

„Mein Herr, wie kommen Sie dazu … was soll das heißen,“ rief das Mädchen empört, ahnungslos.

„Gnädiges Fräulein – Werres Stimme klang merkwürdig weich – bitte behalten Sie Platz. – Ich kann Ihnen keine Erklärungen abgeben – ich wiederhole nur auch Ihnen gegenüber: Ich komme in amtlicher Eigenschaft als Beamter der Kriminalpolizei! Falls die Damen zweifeln sollten – bitte, hier ist meine Legitimation.“

„Und ich soll – soll Ihnen die Kassette geben …?“ stotterte Fräulein Schwarz fassungslos. Sie heute sich verraten und Werres hatte sein Verhalten richtig berechnet.

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Empfohlene Zitierweise:
Walther Kabel: Der Doppelgänger. In: Zeit im Bild, Jahrgang 1908, S. 59, 82–84, 106–108, 130–132, 154–156, 178–180, 202–204, 226–228, 250–252, 274–276, 298–300, 322–324, 346–348, 370–372, 394–396, 418–420, 442–444, 466–468, 490–492. Berliner Central-Verlag, Berlin 1908, Seite 443. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_Doppelg%C3%A4nger.pdf/48&oldid=- (Version vom 31.7.2018)