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Walther Kabel: Der Doppelgänger. In: Zeit im Bild, Jahrgang 1908, S. 59, 82–84, 106–108, 130–132, 154–156, 178–180, 202–204, 226–228, 250–252, 274–276, 298–300, 322–324, 346–348, 370–372, 394–396, 418–420, 442–444, 466–468, 490–492

völlig durchbohrt. Der Stichkanal verläuft derart, daß anzunehmen ist, daß der Bankier den Todesstoß im Stehen erhalten hat. Der Tod muß nach wenigen Sekunden eingetreten sein. Weitere Verletzungen weist der Körper – so weit ich bei dieser oberflächlichen Untersuchung gesehen habe – nicht auf.“

„Sie irren, Herr Doktor,“ erklang da plötzlich eine ruhige Stimme. Die Anwesenden schauten überrascht auf. Werres war vorgetreten und wiederholte: „Sie irren, Herr Doktor, der Leichnam zeigt doch noch weitere Spuren von Gewalttätigkeit auf“. Er kniete nieder und bog die Ecken des Kragens am Halse des Ermordeten weit auseinander, und da hoben sich deutlich mehrere rote Flecken links und rechts der Kehle von der Haut ab. Der Arzt hatte sich schnell gebückt. Er riß dem Toten die Krawatte, die sich nicht gutwillig entfernen lassen wollte, ab, knöpfte den weißen Leinenkragen auf und betrachtete aufmerksam diese roten, auffallenden Stellen.

„Zweifellos Strangulationsmarken,“ sagte er zu dem Staatsanwalt, aufsehend. „Der Mörder muß ein außergewöhnlich kräftiger Mensch gewesen sein, denn die Flecken zeigen schon eine leicht bläuliche Färbung … die Kehle ist mit größter Gewalt zugedrückt worden …“

„Und von einem Manne, der an der linken Hand sehr spitz geschnittene Nägel trägt …“ fuhr Werres leise fort. Der Arzt richtete sich auf. „Woraus schließen Sie denn das?“ meinte er verwundert. „Bitte, Herr Doktor,“ sagte Werres höflich „wollen Sie einmal die roten Stellen auf ihre Anordnung hin genau betrachten. Sie sehen hier links der Kehle zwei sehr scharf ausgeprägte Flecken, während sich rechts nur ein einziger, aber wohl auch der deutlichste und der größte Fleck zeigt; dieser eine hier auf der rechten Seite wurde durch den Daumen eingepreßt, während die beiden Flecken links von dem Zeige- und Mittelfinger herrühren. Diese Anordnung ist aber nur möglich, wenn der Täter den Bankier mit der linken Hand zu erwürgen versucht hat.“ – Werres demonstrierte den erstaunt zusehenden Herren das eben Ausgeführte an dem Toten selbst und legte seine linke Hand leise um den Hals des Ermordeten – und es stimmte genau. – „Wäre der Bankier mit der rechten Hand gewürgt worden,“ setzte Werres noch hinzu, „so müßten die Abdrücke der Finger gerade entgegengesetzt angeordnet sein.“

Der Staatsanwalt warf einen merkwürdig prüfenden Blick auf Werres, dann sagte er: „Und wie verhält es sich mit den spitzgeschnittenen Nägeln, Herr Doktor?“ er suchte nach dem Namen. „Werres“ half ihm der Kommissar. „Ja – richtig – also wie ist’s damit, Herr Dr. Werres?“

„Sie sehen hier, Herr Staatsanwalt,“ – und Werres beugte sich über den Toten, – „an dem oberen Rande der beiden linksseitigen Flecken zwei kaum erbsengroße, stärker gerötete Stellen, und, wie ich den Herren ja eben bereits gezeigt habe, können diese stärker geröteten Stellen nur von den sehr spitz geschnittenen Nägeln des Zeige- und Mittelfingers herrühren, da sie ganz offenbar in ihrer gleichmäßigen Lage zu den sonstigen Eindrücken der Finger nicht zufällige Rötungen in der Haut sind.“ Der Arzt hatte sich wieder niedergekniet und beschaute sich die fraglichen Stellen sehr genau. „Es ist so, wie Herr Dr. Werres sagt,“ meinte er dann kopfschüttelnd. – „Ich habe allerdings diese höchst interessanten Merkmale vorher übersehen. Und – hier sehe ich auch zwei ganz feine blutunterlaufene Stellen – sicher die Druckstellen der äußersten Spitzen der Fingernägel.“

„Da hätten wir ja einen Anhaltspunkt mehr gewonnen,“ sagte der Staatsanwalt eifrig. „Wenn wir nur diesem Herrn Baron etwas genauer auf die Finger sehen könnten – fuhr er mit feiner Ironie fort – ich glaube, wir werden diese spitz geschnittenen Nägel bei ihm vorfinden!“ Der Staatsanwalt hatte dabei wie fragend auf Werres geschaut, als erwarte er von diesem eine Bestätigung; doch als Erwiderung auf diese halb an ihn gerichteten Worte huschte nur wieder ein blitzschnelles Lächeln über Werres sonst so leidenschaftslosen Züge – ein Lächeln, das das Gesicht und den ganzen Menschen unsympathisch erscheinen ließ. Der Staatsanwalt krauste die Stirn und wollte auffahren … Aber er zwang sich zur Ruhe und, sich an den Arzt wendend, fragte er:

„Und wann, meinen Sie, Herr Doktor, kann der Mord geschehen sein? Ist es vielleicht möglich, aus irgend welchen Anzeichen die Zeit genauer zu bestimmen?“

„Gewiß – ich habe das vorhin zu erwähnen vergessen. Der Herr Kommissar gab als Zeit der Tat ¾11 an – ich kann mich dem nur anschließen. Die Leichenstarre ist noch nicht eingetreten und auch aus verschiedenen anderen Anzeichen ist es nur möglich, mit ziemlicher Bestimmtheit zu behaupten, daß der Mord – der Arzt zog seine Uhr – vor kaum 1 Stunde geschehen sein kann – also gegen ¾11.“

„So – ich danke Ihnen Herr Doktor! Auch das ist mir sehr wichtig,“ sagte Hübner nachdenklich. „Das Netz um diesen Herrn Baron von Berg zieht sich immer mehr zusammen – ich fürchte nur, daß er uns entwischt …“ – „Das ist ganz ausgeschlossen“ meinte der Kriminalkommissar. „Mit einem Vorsprung von kaum ½ Stunde entkommt uns heutzutage kein Verbrecher mehr.“ – Das klang sehr selbstbewußt. Zufällig schaute der Staatsanwalt zu Werres hin, der sich mit verschränkten Armen an den Schreibtisch gelehnt hatte. Da sah er wieder dieses fast höhnische Lächeln, das jetzt nur noch stärker hervortrat … Der Staatsanwalt fuhr auf: „Herr Dr. Werres – Sie lächeln scheinbar sehr … skeptisch … bitte, dürfte ich den Grund wissen?!“ Das klang beinahe befehlend. Werres rührte sich nicht, nur ein durchdringender, drohender Blick traf Hübner, dann meinte er bestimmt: „Der Baron von Berg ist der Mörder nicht.“


5. Kapitel.

Es war plötzlich sehr still in dem Zimmer geworden. Alle Augen wandten sich erstaunt auf Werres; und der Kommissar Richter, dem das Benehmen seines „Schülers“ heute keineswegs behagte[1], platzte ärgerlich los:

  1. Vorlage: besagte
Empfohlene Zitierweise:
Walther Kabel: Der Doppelgänger. In: Zeit im Bild, Jahrgang 1908, S. 59, 82–84, 106–108, 130–132, 154–156, 178–180, 202–204, 226–228, 250–252, 274–276, 298–300, 322–324, 346–348, 370–372, 394–396, 418–420, 442–444, 466–468, 490–492. Berliner Central-Verlag, Berlin 1908, Seite 131. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_Doppelg%C3%A4nger.pdf/9&oldid=- (Version vom 31.7.2018)