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Walther Kabel: Der Fall Routland. In: Das Buch für Alle, 47. Jahrgang, Heft 15, S. 340–341

Schnelldampfer „Rekord“ von San Franzisko nach Hongkong gereist und nach nur zweitägigem Verbleiben in der chinesischen Hafenstadt mit dem nächsten Steamer, der „Alaska“, wieder nach Amerika zurückgekehrt war – also auf demselben Schiffe, mit dem auch das an die Polizei adressierte Paket mit dem Inhalt der gestohlenen Postsäcke in San Franzisko eintraf. Longrean sagte sich sehr richtig, daß er in der Person dieses Albert Routland, eines jungen Mannes, der in den ersten Kreisen Friskos verkehrte und keinen anderen Beruf hatte, als die Millionen seines Vaters unter die Leute zu bringen, vermutlich einen der merkwürdigen Spitzbuben entdeckt habe, eben den, der die gestohlenen Postsäcke nach Hongkong gebracht und dort mit dem Bestimmungsort San Franzisko zurückexpediert hatte. Denn daß der junge Millionär nur zum Vergnügen diese vierwöchige Seereise mit der zweitägigen Unterbrechung in Hongkong unternommen haben sollte, war doch recht unwahrscheinlich. Jedenfalls glaubte der findige Redakteur alle Ursache zu haben, Herrn Albert Routlands Tun und Treiben etwas genauer zu beobachten. Nachdem er dies mit größter Ausdauer fast zwei Monate lang durchgeführt hatte, trat ein Ereignis ein, das aufs neue San Franzisko in Aufruhr brachte.

Am 1. März 1911 war in den Salonen der Friskoer Kunsthandlung Aldin & Co. eine Ausstellung niederländischer Meister eröffnet worden, die nicht weniger als dreiundzwanzig überaus wertvolle alte Gemälde, darunter zwei von van Goes und drei von Hans Memling, vereinigte und den Besuchern eine genaue Übersicht über die glänzendste Periode der holländischen Malerei gab. In der Nacht vom 4. zum 5. März hörte nun der über den Ausstellungsräumen wohnende Inhaber der genannten Kunsthandlung, Macdonald Aldin, im Parterre ein verdächtiges Geräusch. Albin argwöhnte sofort, daß Diebe es auf die kostbaren Bilder abgesehen haben könnten. Er telephonierte kurz entschlossen die in der nächsten Straße gelegene Polizeistation an und schlich dann selbst möglichst lautlos die aus seiner Wohnung direkt in das Parterre führende Wendeltreppe hinunter. Hierbei berührte er jedoch mit dem Finger vorzeitig den Druckknopf seiner elektrischen Taschenlampe, so daß ein weißer Lichtkegel für Sekunden in der Dunkelheit aufblitzte. Obgleich er den Strom augenblicklich wieder ausschaltete, hatte das Aufblitzen der Lampe die Spitzbuben doch gewarnt. Aldin hörte noch flüchtige Schritte, dann war alles totenstill.

Inzwischen waren auch die drei von der Polizeistation sofort abgeschickten Beamten in der Nähe des Hauses angelangt. In der völlig menschenleeren Straße hielt nur unfern des Kunstsalons ein einzelnes Auto mit ratterndem Motor. Da – ein gellender Pfiff, das Auto setzte sich in Bewegung und raste davon. In demselben Augenblick schrie es: „Diebe – Diebe! Haltet das Auto!“ Ein elegant gekleideter Herr, der den Beamten entgegenstürmte, stieß die Worte aus. Atemlos berichtete er, daß er vor wenigen Sekunden beim Passieren der Straße zwei Männer gesehen habe, die aus dem Kunstsalon Aldin & Co. herausstürzten und auf das Auto zuliefen. In der Hoffnung, vielleicht einen weiteren Einbrecher noch abfangen zu können, habe er sich neben die offene Tür der Kunsthandlung gestellt, in deren Sälen er deutlich einen hin und her huschenden Lichtschein bemerkt habe. Es müsse also fraglos noch jemand in den Räumen sein.

Die Polizisten zögerten nicht lange. Das Auto war längst um die nächste Ecke verschwunden, es weiter zu verfolgen also zwecklos. Man drang in das Geschäft ein. Wirklich, da vorn bewegte sich eine Gestalt, die mit einer elektrischen Lampe die an den Wänden hängenden Gemälde ableuchtete. Aber – es war Herr Macdonald Aldin, der Inhaber, selbst, der nachsah, ob irgend etwas von seinen Schätzen fehlte. Trotzdem durchsuchte man aufs genaueste alle Räumlichkeiten. Der elegante Herr, den Aldin sofort als den ihm wohlbekannten Millionär Albert Routland sehr zuvorkommend begrüßt hatte, beteiligte sich dabei aufs eifrigste. Leider war die Suche vergeblich. Es schienen demnach wirklich nur die beiden in dem Auto entflohenen Spitzbuben bei dem Streiche beteiligt gewesen zu sein. Worauf sie es abgesehen hatten, war unschwer zu erraten: zwei der Gemälde, gerade die wertvollsten, waren von ihren Haken herabgenommen worden und lehnten in der Nähe des Einganges an einem Tischchen. Nur Herrn Aldins Auftauchen auf der Wendeltreppe hatte die Diebe, die nur mit Hilfe eines tadellos gearbeiteten Nachschlüssels das Patentschloß der Vordertür geöffnet haben konnten, zu schleuniger Flucht und zum Preisgeben ihrer Beute veranlaßt.

Die Friskoer Zeitungen erwähnten diesen mißglückten Diebstahl, der wieder an einem Vierten unternommen worden war, nur in kurzen Notizen.

Auffallenderweise schwieg sich der „Morgenbote“ darüber völlig aus. Aber drei Tage später veröffentlichte er dafür folgenden Artikel, der in San Franzisko wie eine Bombe wirkte: „Wieder ein Diebstahl an einem Vierten! Dieses Mal hatte unsere Polizei das unerhörte Pech, daß ihr die Spitzbuben sozusagen vor der Nase im eleganten Auto davonfuhren. Sollte dieses hilfsbereite Auto nicht dasselbe gewesen sein, das so dicht an der Kaimauer des Hafens hielt, als die beiden Postsäcke am 4. November vorigen Jahres gestohlen wurden? Und sollte nicht Herr Albert Routland, der sich im Salon Aldin & Co. so eifrig an der Suche nach den Spitzbuben beteiligte, etwas mehr von diesem letzten Streich wissen? Warum ist Herr Albert Routland, um sich etwas mit seiner Vergangenheit zu beschäftigen, gerade in der Zeit vor dem Einbruch bei dem Juwelier Danzer plötzlich so eifriger Kunde dieser Firma geworden und dort mehrere Male kurz vor Geschäftsschluß erschienen? Etwa um die Gelegenheit für einen späteren nächtlichen Besuch auszuspionieren? Und weiter: wie mag es kommen, daß die Aufsichtsbeamten des Stadtmuseums, wenn man ihnen eine Photographie Albert Routlands zeigt, sich so genau darauf besinnen, diesen Herrn gerade vor dem Verschwinden des berühmten Goldklumpens des öfteren in der Abteilung der Landeserzeugnisse, in stiller Bewunderung vor den Glaskästen mit den goldenen Schätzen unserer kalifornischen Erde stehend, beobachtet zu haben? Ferner: ist es nur ein Zufall, daß derselbe Albert Routland am 5. November des verflossenen Jahres, also einen Tag nach dem Raub bei Postsäcke, mit dem ,Rekord‘ nach Hongkong abdampfte, dort nur zwei Tage blieb und dann wieder hierher nach Frisko zurückkehrte? Und schließlich: warum mögen die drei Polizisten, die auf Herrn Aldins telephonischen Anruf nach dessen Hause eilten, nicht auch die beiden Spitzbuben, die doch nach Herrn Albert Routlands Behauptung wenige Sekunden vor dem Eintreffen der Polizei aus dem Geschäft herausstürmten, in jener hell erleuchteten Straße nicht ebenfalls gesehen haben? Wäre es nicht auch wert, darüber nachzudenken, wer wohl den Pfiff ausgestoßen hat, auf den hin das Auto davonfuhr? Die Polizisten geben ja zu, daß dieser Pfiff nicht aus dem Auto, sondern ein Stück weiter rückwärts, eben von dort ungefähr, wo Herr Albert Routland an der offenen Geschäftstür so eifrig auf einen weiteren Einbrecher lauerte, ertönte! Wäre es nicht ebenso angebracht, festzustellen, wo sich in jener Nacht das Automobil des Herrn Albert Routland befand? Und warum hat dieser Herr vorgestern so urplötzlich seinen Chauffeur und seinen Diener, mit denen er in mannigfachen Verkleidungen häufig genug in unserem Verbrecherwinkel, dem Chinesenviertel, gesehen wurde, abgelohnt und ins Ausland geschickt, so daß niemand die beiden Leute, falls ihr Zeugnis gegen ihren früheren Herrn gebraucht werden sollte, sie jetzt noch auffinden könnte?

Alle diese Fragen zu untersuchen, läge unseres Erachtens recht stark im Interesse der Allgemeinheit. Sollten selbst diese Fingerzeige den mit der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit betrauten Organen noch nicht genügen, um einen Mann endlich unschädlich zu machen, der seit einem Jahre ganz San Franzisko durch seine verwegenen Banditenstücklein förmlich am Narrenseil geführt hat und dem es eben nicht um die Beute, sondern lediglich um den mit der Vorbereitung und Ausführung seiner verbrecherischen Pläne verbundenen Nervenkitzel zu tun ist, so kann jeder anständige Bürger nur bedauern, in einem Lande zu leben, das sich in falscher Renommisterei das ,freie‘ Amerika nennt: wo Freiheit zur erlaubten Gesetzlosigkeit wird, wo die Macht des Goldes selbst die Zungen der staatlichen Hüter der Ordnung lähmt, herrscht schmählichste Sklaverei!“

Als Verfasser dieses Artikels hatte Thomas Longrean, der Redakteur des Gerichtsteiles, gezeichnet.

Und jetzt raffte sich die Friskoer Polizei endlich zu einer entscheidenden Tat auf. Albert Routland wurde wenige Stunden nach dem Erscheinen der betreffenden Nummer des „Morgenboten“ verhaftet. Nachdem er zwei Wochen in Untersuchungshaft gesessen hatte, mußte er jedoch aus Mangel an Beweisen wieder freigelassen werden. Er wußte die ihn belastenden Momente so geschickt in ein harmloses Licht zu rücken, daß man ihm, zumal keinerlei Zeugen zur Widerlegung seiner Erklärungen aufzutreiben waren, nichts anhaben konnte. Trotzdem gab es in ganz San Franzisko nur eine Stimme: Albert Routland ist trotz alle dem schuldig, einzig und allein auf sein Konto sind die vier unaufgeklärt gebliebenen Diebstähle zu setzen.

Thomas Longrean wurde bald darauf wegen „Ehrenkränkung des ehrenwerten Herrn Albert Routland“ zu zwei Monaten verurteilt. Dem „Morgenboten“ aber erstand in einer noch billigeren und noch geschickter redigierten neuen Volkszeitung, dem „Abendboten“, eine derartige Konkurrenz, daß er bereits im Oktober 1911 sein Erscheinen einstellte. Einer der Hauptaktionäre der neuen Zeitung war Albert Routland, der berühmte Börsenmakler und Multimillionär, der auf diese Weise die Beschimpfung seines Namens unblutig, aber desto nachhaltiger zu rächen wußte.

Empfohlene Zitierweise:
Walther Kabel: Der Fall Routland. In: Das Buch für Alle, 47. Jahrgang, Heft 15, S. 340–341. Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 1912, Seite 341. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_Fall_Routland.pdf/3&oldid=- (Version vom 31.7.2018)