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Heinrich Heine: Drei und dreißig Gedichte von Heinrich Heine. In: Der Gesellschafter oder Blätter für Geist und Herz 1824, S. 242–258

Doch mit dem Traum des Morgens

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Zerrinnt es nimmermehr;

Dann trag’ ich es im Herzen
Den ganzen Tag umher.


 XIX.
Ich wollte bei dir weilen,
Und an deiner Seite ruh’n,
Du mußtest von mir eilen,
Du hattest viel zu thun.

5
Ich sagte, daß meine Seele

Dir gänzlich ergeben sey;
Du lachtest aus voller Kehle,
Und machtest ’nen Knix dabei.

Du hast noch mehr gesteigert

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Mir meinen Liebesverdruß,

Und hast mir sogar verweigert
Am Ende den Abschiedskuß.

Glaub’ nicht, daß ich mich erschieße,
Wie schlimm auch die Sachen steh’n!

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Das Alles, meine Süße,

Ist mir schon einmal gescheh’n.


 XX.
Was will die einsame Thräne?
Sie trübt mir ja den Blick;
Sie blieb aus alten Zeiten
In meinem Auge zurück.

5
Sie hatte viel leuchtende Schwestern,

Die alle zerflossen sind,
Mit meinen Qualen und Freuden,
Zerflossen in Nacht und Wind.

Wie Nebel sind auch zerflossen

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Die blauen Sternelein,

Die mir jene Freuden und Qualen
Gelächelt in’s Herz hinein.

Ach, meine Liebe selber
Zerfloß wie eitel Hauch!

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Du alte, einsame Thräne,

Zerfließe jetzunder auch.


 XXI.
Der bleiche, herbstliche Halbmond
Lugt aus den Wolken heraus;
Ganz einsam liegt auf dem Kirchhof
Das stille Pfarrerhaus.

5
Die Mutter liest in der Bibel,

Der Sohn der starret in’s Licht,
Schlaftrunken dehnt sich die ält’re,
Die jüngere Tochter spricht:

Ach Gott! wie Einem die Tage

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Langweilig hier vergeh’n;

Nur wenn sie Einen begraben,
Bekommen wir etwas zu seh’n.

Die Mutter spricht zwischen dem Lesen:
Du irrst, es starben nur Vier,

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Seit man deinen Vater begraben

Dort an der Kirchhofsthür.

Die ältere Tochter gähnet:
Ich will nicht verhungern bei euch,
Ich gehe morgen zum Grafen,

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Und der ist verliebt und reich.


Der Sohn bricht aus in Lachen:
Drei Jäger zechen im Stern,
Die machen Gold und lehren
Mir das Geheimniß gern.

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Die Mutter wirft ihm die Bibel

In’s mag’re Gesicht hinein:
So willst du, Gottverfluchter,
Ein Straßenräuber seyn!

Sie hören pochen an’s Fenster,

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Und seh’n eine winkende Hand;

Der todte Vater steht draußen
Im schwarzen Pred’gergewand.


Empfohlene Zitierweise:
Heinrich Heine: Drei und dreißig Gedichte von Heinrich Heine. In: Der Gesellschafter oder Blätter für Geist und Herz 1824, S. 242–258. Maurer, Berlin 1824, Seite 251. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_Gesellschafter_1824_page_251.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)