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Heinrich Heine: Drei und dreißig Gedichte von Heinrich Heine. In: Der Gesellschafter oder Blätter für Geist und Herz 1824, S. 242–258

 XXII.
Im Traum sah ich die Geliebte,
Ein banges, bekümmertes Weib,
Verwelkt und abgefallen
Der sonst so blühende Leib.

5
Ein Kind trug sie auf dem Arme,

Ein andres führt sie an der Hand,
Und sichtbar ist Armuth und Trübsal
Am Gang und Blick und Gewand.

Sie schwankte über den Marktplatz,

10
Und da begegnet sie mir,

Und sieht mich an, und ruhig
Und schmerzlich sag’ ich zu ihr:

Komm mit nach meinem Hause,
Denn du bist blaß und krank;

15
Ich will durch Fleiß und Arbeit

Dir schaffen Speis und Trank.

Ich will auch pflegen und warten
Die Kinder, die bei dir sind,
Vor Allem aber dich selber,

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Du armes, unglückliches Kind.


Ich will dir nie erzählen,
Daß ich dich geliebet hab’,
Und wenn du stirbst, so will ich
Weinen auf deinem Grab.


 XXIII.
Das ist ein schlechtes Wetter,
Es regnet und stürmt und schneit;
Ich sitze am Fenster und schaue
Hinaus in die Dunkelheit.

5
Da schimmert ein einsames Lichtchen,

Das wandelt langsam fort;
Ein Mütterchen mit dem Laternchen
Wankt über die Straße dort.

Ich glaube Mehl und Eier

10
Und Butter kaufte sie ein;

Sie will einen Kuchen backen
Für’s große Töchterlein.

Die liegt zu Haus im Lehnstuhl,
Und blinzelt schläfrig in’s Licht;

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Die gold’nen Locken wallen

Ueber das süße Gesicht.


 XXIV.
Deine weichen Liljenfinger,
Könnt’ ich sie noch einmal küssen,
Und sie drücken an mein Herz,
Und vergeh’n in stillem Weinen!

5
Deine klaren Veilchen-Augen

Schweben vor mir Tag und Nacht,
Und mich quält es: was bedeuten
Diese süßen, blauen Räthsel?


 XXV.
Mädchen mit dem rothen Mündchen,
Mit den Aeuglein süß und klar,
Du mein liebes, kleines Mädchen,
Deiner denk’ ich immerdar.

5
Lang ist heut der Winter-Abend,

Und ich möchte bei dir seyn,
Bei dir sitzen, mit dir schwatzen,
Im vertrauten Kämmerlein.

An die Lippen wollt’ ich pressen

10
Deine kleine weiße Hand,

Und mit Thränen sie benetzen,
Deine kleine, weiße Hand.


Empfohlene Zitierweise:
Heinrich Heine: Drei und dreißig Gedichte von Heinrich Heine. In: Der Gesellschafter oder Blätter für Geist und Herz 1824, S. 242–258. Maurer, Berlin 1824, Seite 257. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_Gesellschafter_1824_page_257.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)