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Heinrich Heine: Drei und dreißig Gedichte von Heinrich Heine. In: Der Gesellschafter oder Blätter für Geist und Herz 1824, S. 242–258

 XXVI.
Wie dunkle Träume stehen
Die Häuser in langer Reih’;
Tief eingehüllt im Mantel
Schreite ich schweigend vorbei.

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Der Thurm der Cathedrale

Verkündet die zwölfte Stund;
Mit ihren Reizen und Küssen
Erwartet mich Liebchen jetzund.

Der Mond ist mein Begleiter,

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Er leuchtet mir freundlich vor;

Da bin ich an ihrem Hause,
Und freudig ruf’ ich empor:

Ich danke dir, alter Vertrauter,
Daß du meinen Weg erhellt;

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Jetzt will ich dich entlassen,

Jetzt leuchte der übrigen Welt!

Und findest du einen Verliebten,
Der einsam klagt sein Leid,
So tröst’ ihn, wie du mich selber

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Getröstet in alter Zeit.



 XXVII.
Hast du die Lippen mir wund geküßt,
So küsse sie wieder heil,
Und wenn du bis Abend nicht fertig bist,
So hat es auch keine Eil.

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Du hast mich ja noch die ganze Nacht,

Du Herzallerliebste mein!
Man kann in solch einer ganzen Nacht
Viel küssen und selig seyn.


 XXVIII.
Und bist du erst mein ehliches Weib,
Dann bist du zu beneiden,
Dann lebst du in lauter Zeitvertreib,
In lauter Plaisir und Freuden.

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Und wenn du schiltst und wenn du tobst,

Ich werd’ es geduldig leiden;
Doch wenn du meine Verse nicht lobst,
Laß ich mich von dir scheiden.


 XXIX.
Als Sie mich umschlang mit zärtlichem Pressen,
Da ist meine Seele gen Himmel geflogen!
Ich ließ sie fliegen, und hab’ unterdessen
Den Nektar von Ihren Lippen gesogen.


 XXX.
Blamir’ mich nicht, mein liebes Kind,
Und grüß’ mich nicht unter den Linden;
Wenn wir nachher zu Hause sind,
Wird sich schon Alles finden.


 XXXI.
Selten habt Ihr mich verstanden,
Selten auch verstand ich Euch,
Nur wenn wir im Koth uns fanden,
So verstanden wir uns gleich.


 XXXII.
Gaben mir Rath und gute Lehren,
Ueberschütteten mich mit Ehren,
Sagten, daß ich nur warten sollt’,
Haben mich protegiren gewollt.

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Aber bei all ihrem Protegiren,

Hätte ich können vor Hunger krepiren,
Wär’ nicht gekommen ein braver Mann,
Wacker nahm er sich meiner an.

Braver Mann! Er schafft’ mir zu essen!

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Will es ihm nie und nimmer vergessen!

Schade, daß ich ihn nicht küssen kann!
Denn ich bin selbst dieser brave Mann.
 
 
 XXXIII.
Wie der Mond sich leuchtend dränget
Durch den dunkeln Wolkenflor,
Also taucht aus dunkeln Zeiten
Mir ein lichtes Bild hervor.

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Saßen all auf dem Verdecke,

Fuhren stolz hinab den Rhein,
Und die sommergrünen Ufer
Glüh’n im Abendsonnenschein.

Sinnend saß ich zu den Füßen

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Einer Dame schön und hold;

In ihr liebes, bleiches Antlitz
Spielt das rothe Sonnengold.

Lauten klangen, Buben sangen,
Wunderbare Fröhlichkeit!

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Und der Himmel wurde blauer,

Und die Seele wurde weit.

Mährchenhaft vorüber zogen
Berg und Burgen, Wald und Au’;
Und das Alles sah ich glänzen

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In dem Aug’ der schönen Frau.
Empfohlene Zitierweise:
Heinrich Heine: Drei und dreißig Gedichte von Heinrich Heine. In: Der Gesellschafter oder Blätter für Geist und Herz 1824, S. 242–258. Maurer, Berlin 1824, Seite 258. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_Gesellschafter_1824_page_258.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)