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die russische Steppe gereist ist, der weiss, dass man beim Geheule ganzer Rudel Wölfe ruhig schlafen kann, während der Schrei eines einzelnen hungrigen Wolfes furchtbar beunruhigt und den Schlaf verscheucht. Je farbloser, unbestimmter also das Geräusch ist, um so interesseloser bleibt es und um so weniger Bewusstsein oder „Aufmerksamkeit” vermag es zu binden. Eigentümlich also wäre in dem Falle Mozarts lediglich dieses, dass der Lärm anregend auf das bewusste Schaffen wirken konnte, während wir ihn doch als die Waffe gegen „Bewusstsein”, als Mittel zur Betäubung zu würdigen versuchen. Etwas ganz Ähnliches nun lese ich auch in der Selbstbiographie John Stuart Mills. Dieser ungemein bewusste, fast pathologisch wache Geist pflegte zur Zeit einer dumpf nervöser Apathie in einem neben seinem Arbeitszimmer befindlichen Raum eine Pauke aufzustellen; darauf musste ein Junge kräftig Lärm schlagen. Mill behauptet, dass dieses Dröhnen seine erschlaffende Denkkraft neuerdings anzuregen vermochte. Gleichwohl empfand er jedes spezielle Geräusch als sehr störend. Er meinte, dass grosser Lärm ebenso anspornen könne, wie die Einzelgeräusche ablenken. Auch Hegel, der sein Hauptwerk (angeblich) am Abende der Schlacht von Jena vollendete und unter dem Donner naher Geschütze schrieb, äusserte sich dahin, dass der gleichmässige Lärm seine Gedanken geschärft und beflügelt habe. Dieses also wären Fälle, wo Lärm scheinbar nicht bewusstsein-übertäubend, sondern im Gegenteil bewusst-sein-stärkend gewirkt hat. Die Erklärung dafür suche ich im folgenden. – Eine nicht sehr affektive oder in einer Zeit psychischer Erschöpfung geübte Denktätigkeit bedarf eines gewissen Maasses abnormer Anreizung und Anregung um so viel „psychische Energie” aufbringen und frei machen zu können, als nötig ist, um einen Gedanken überhaupt aufzugreifen… Etwas dem Verwandtes sehe ich in der Psychologie des „Einschlafens” und Einschlafenkönnens. Der Schlaf ist seiner Natur nach eine Herabdämpfung und Herabminderung bewussten Vorstellens. Gleichwohl kann er nicht eintreten, wo das Bewusstseins- und Vorstellungsleben schon so erschöpft und herabgemindert ist, dass die Kraft zur Konzentration einer einzelnen Vorstellung nicht mehr ausreicht[1]. Man findet daher zuweilen, dass medikamentöse Reizmittel, die beim „normalen Individuum” das Einschlafen hindern würden, in Erschöpfungspsychosen umgekehrt dazu dienen, die Fähigkeit des Einschlafens wieder herzustellen. Hier, bei der Psychologie des Lärmens begegnet uns nun etwas dem Analoges. Während der Lärm seiner Natur nach kein bewusstes Denken aufkommen lässt, sondern nur auf Gefühl und Willen einwirkt (und daher auch als Volksgetöse, Schlachtgeschrei, Barditus, Hurra- und Hipp-Hipp-Gebrülle zum Beseitigen der Überlegung und zum


  1. Hierüber s. mein Buch: Hypnose und Suggestion S. 35.
Empfohlene Zitierweise:
Theodor Lessing: Der Lärm. J. F. Bergmann, Wiesbaden 1908, Seite 12. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_L%C3%A4rm.pdf/15&oldid=- (Version vom 31.7.2018)