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Sammlung des Geistes und diese ist rein unmöglich, während man solche Jammerlaute eines Tieres mit anhören muss. Unter allen störenden Geräuschen ist es gerade dieses, welches in eigentümlicher Art die Aufmerksamkeit dessen, der sich geistig beschäftigen muss, von seiner Arbeit ablenkt. An den Lärm, der mit manchem Handwerk verbunden ist, kann man sich gewöhnen, denn da mengt sich kein Mitleid ein, diese Geräusche schneiden nur ins Ohr, nicht in die Seele. Wer nur einmal versucht hat, während eines nahen Hundegeheuls zu studieren, der weiss aus Erfahrung, dass man auch in den Pausen, in denen das arme Tier schweigt, zu keiner geistigen Sammlung gelangen kann, weil man immer acht geben muss, wenn er wieder beginnt.“[1] – Eine der merkwürdigsten Äusserungen aber speziell über das Geräusch der Musik findet sich bei Kant. Sie lautet folgendermassen: „Es hängt der Musik ein gewisser Mangel an Urbanität an, dass sie, vornehmlich nach Beschaffenheit ihrer Instrumente, ihren Einfluss weiter, als man ihn verlangt auf die Nachbarschaft, ausbreitet und so sich gleichsam aufdrängt, mithin der Freiheit anderer ausser der musikalischen Gesellschaft Abbruch tut, welches die Künste, die zu den Augen reden, nicht tun, indem man seine Augen nur wegwenden darf, wenn man ihren Eindruck nicht einlassen will. Es ist hiermit fast so, wie mit der Ergötzung durch einen sich weit ausbreitenden Geruch bewandt. Der, welcher sein parfümiertes Schnupftuch aus der Tasche zieht, traktiert alle um und neben sich wider ihren Willen und nötigt sie, wenn sie atmen wollen, zugleich zu geniessen, daher es auch aus der Mode gekommen ist.“ – Endlich kann ich mir nicht versagen, ein paar Sätze eines ausgezeichneten Pathologen, Georg Strickers, hierher zu setzen: „Man gibt sich in der Schule so viele Mühe, die Augen zu schonen, warum vernachlässigt man die Ohren der Jugend? Die Lage der meisten Schulgebäude gestattet es, dass das Getöse der Strasse quälend und zerstreuend zu den Ohren der Schüler dringt. Was für Störungen und überflüssige Anstrengungen beim Denken, beim Lernen, beim Lesen durch Lärm und Geräusche aller Art hervorgerufen werden, weiss jeder, der nicht ganz ohne Hingebung und Ernst bei seiner Arbeit ist. Allerdings gibt es Leute, die im grössten Lärm, wie sie behaupten, geistig arbeiten können. Es ist eben ihre Arbeit und ihr Geist danach. Je feiner ein Gehirn gebildet ist, desto gröblicher wird es von zwecklosen Gehörseindrücken in seiner Tätigkeit gestört. … Die Erholung, welche der Städter immer und immer wieder im Gebirge, auf dem Lande, am Meere sucht, ist wesentlich eine Erholung seiner vom Ohr aus erschöpften Nerven. Was dieser Lärm bedeutet, merkt er meistens erst, wenn er ihm eine Zeitlang entrückt war. Dann begreift er kaum, wie


  1. Ich verdanke die angeführten Briefstellen der Güte Robert Vischers in Göttingen.
Empfohlene Zitierweise:
Theodor Lessing: Der Lärm. J. F. Bergmann, Wiesbaden 1908, Seite 28. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_L%C3%A4rm.pdf/31&oldid=- (Version vom 31.7.2018)