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so können wir in jeder Sekunde jeden von den 4000 für uns vorhandenen Tönen deutlich hervorholen und wenn wir einen beliebig abgestimmten Resonator ans Ohr halten, so findet sich, dass jeder mögliche Ton auch in einer scheinbar „ruhigen” Umgebung fortdauernd in unsere Ohren einbrandet. – In diesem Augenblick z. B. höre ich (während ich in einer Wirtshausstube über den Lärm schreibe) von der Strasse her viele charakteristische Vokale im Rufe verschiedener Menschen- und Tierstimmen; höre melodische Terzen und Quinten der Ausrufer von Kartoffeln und Fellen und bestimmte Töne, an denen ich Typen des Ganges oder der Bewegung unterscheiden würde, auch wenn ich nicht sehen könnte, wer an den Fenstern vorübergeht. Wenn eine Modedame auf hohen Absätzen vorüberrauscht, dann höre ich deutlich ein bestimmtes Knarren im hohen e jeden andern Laut übertönen. Stampft ein Bauer auf klobigem Schuhwerk daher, so produziert sich das in kleinen g. Wenn aber ein Offizier den Säbel über das Pflaster schleift, so hört man eine Tonskala, deren Grässlichkeit höchstens mit dem Rasseln eines Spazierstocks über den eisernen Gartenzaun oder mit dem Aneinanderwetzen zweier geschliffener Messer verglichen werden kann[1].


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Da der Lärm, gleich seiner edlen Schwester Musik, ausschliesslich das Affekt- und Willensleben des Menschen aufzurütteln vermag, so kann er zu Gewaltakten, ja zu Verbrechen verführen, die in Ruhe und Stille niemand zu begreifen vermag. Die geschichtliche Überlieferung bezeugt, dass „Gewaltnaturen” wie Alexander der Grosse und Erich der Gute, von Dänemark, durch die Wirkung aufreizender Musik zu Mördern ihrer vertrautesten Freunde geworden sind. Wir lesen auch von Napoleon, dass dieser „Eisenmensch” Musik und lautes Geräusch als so unerträgliche Nervenqual empfunden hat, dass er bei ihrem Anhören zum Weinen gezwungen wurde. Und in der Tat, jedermann weiss aus Erfahrung, dass es keinerlei emotionelle Regung gibt, die nicht auf dem Wege der Tonwahrnehmung in die Seele Einlass finden könnte. Eben darum ist es nur natürlich, dass das für Töne besonders empfängliche Individuum jedes Geräusch als Vergewaltigung und Zersplitterung seines Selbst empfindet und fürchtet. Alles, was in unsere Ohren eindringt, stellt ja die Forderung, uns in fremde Willens- und Gefühlszustände hineinziehen zu lassen. Je individueller daher unsere Arbeit und unser Leben ist, je mehr wir Sammlung, Einkehr und Selbstbewahrung nötig


  1. Die Apperzeption der Einzeltöne, die uns die „Klanganalyse” vermittelt, kann sogar zur apperzeptiven Manie werden. Wenn ich mich lange geübt habe, Geräusche in Einzeltöne zu zerlegen, so stellt sich die „Disposition” ein, jedes in der Umgebung auftauchende Geräusch mir bewusst zu machen.
Empfohlene Zitierweise:
Theodor Lessing: Der Lärm. J. F. Bergmann, Wiesbaden 1908, Seite 35. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_L%C3%A4rm.pdf/38&oldid=- (Version vom 31.7.2018)