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wie sie in die Wartesäle stürzen, sich stossen, schieben, drängeln, auf den Stationen möglichst schnell Kaffee, heisses Fleisch, Biere herunterschlingen, wie sie in dem Pferch der kleinen Coupékäfige sich gleichgültig mustern, durch Tabak, schlechte Luft, geschwätzigen Lärm einander belästigen, – dann begreift man das Heimweh nach der Posthornzeit, der Zeit einsamen Wanderns ins „Welschland”, das deutsche Ränzel auf dem Rücken. Beschauliche Fahrt durch stille verschlafene Städte, betrachtsame Einkehr und Schwärmerei, – das ist dahin. Alle Courtoisie, aller Stil des Reisens geht zum Teufel. Es ist in allen Fremdenstädten, Saisonplätzen, Bädern, Kurorten immer der gleiche Anblick. Der Durchschnittstypus ist der windige, lärmende Eisenbahnkommis, der überall „versierte”, ach so welterfahrene, ach so „gescheute” Reiseonkel. In beiden Hemisphären herrscht seine „Weltanschauung”; jene seelenlose Weisheit, die sich in Sätze kleidet wie diese: „Wein ist besser als Bier. Vergiss nicht warme Unterkleider. Brich nie dein Kapital an.” – So beschaut er seine „Welt” mit lichtlosen Augen, von erschreckender Gleichartigkeit. Ehrlich bis an die Grenze seines Vorteils; anständig herzlos; „Frechdachs” mit billigem „Gemüt”. Energisch und gewöhnlich, grossmäulig und unecht, kalt und sinnlich, und unaufhörlich in „Geschäften”. Jeder Versonnenheit, jedem Schweigen, jeder Ehrfurcht herzlich abhold. Das ist der anglo-amerikanische „Moneymaker”, der kapitalistisch-semitische „Tatsachenmann” der bierehrlich-deutsche „Biedermann mit Vorteil”. Diese Leute erobern die heutige Erde. Man kann ihnen eine in allen Sätteln gerechte, jedem Zufall gewachsene plattgeistige Kultur nicht absprechen. Eine Kultur, der die dritte Dimension fehlt.…[1]

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  1. Eine besondere Sorte des Reiselärms möchte ich wenigstens in Form einer Anmerkung gerügt haben, ich meine die grauenhafte Unruhe in den Korridoren der Gasthäuser und Hotels, die das Reisen zur Tortur macht. Und doch wäre ein grosser Teil dieser Hotelgeräusche bei gegenseitiger Rücksichtnahme wohl vermeidbar! So fand ich z. B. in einer Stadt mittlerer Grösse einen Gasthof, in dem keinerlei lautes Läutewerk in Gebrauch war, sondern von jedem Zimmer aus ging ein Haustelephon zur Portierloge. Der Portier nahm alle Wünsche der Gäste in Empfang und vermittelte sie durch stummes Signalwerk weiter an Stubenmädchen, Hausburschen oder Kellner. – Ich will an dieser Stelle auch eine Unsitte erwähnen, die einer ganz anderen Sphäre von Lärmstörungen zugehört: das „Beifalltrampeln” mit den Füssen, wie es noch überall auf Universitäten üblich ist. Durch dies Scharren und Trampeln wird unnütz Staub und Schmutz aufgewirbelt, so dass die Unart nicht nur das Ohr schikaniert, sondern schlechtweg hygienisch gefährlich wird.
Empfohlene Zitierweise:
Theodor Lessing: Der Lärm. J. F. Bergmann, Wiesbaden 1908, Seite 48. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_L%C3%A4rm.pdf/51&oldid=- (Version vom 31.7.2018)