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sinnvoll bedünke.” Freilich, jene Stunde, die Gustav Freytag in den „Ahnen” schildert, war schön und gross, die Stunde, wo der erste Glockenlaut über deutsche Lande dahinzog, denn Glockenklang und Sichelklang sind die heiligsten Klänge der Menschheit, Klang ihrer Andacht und ihrer Arbeit. Zweifellos gibt es Uhren, Türme und Glocken, deren Ton das Herz eigen beruhigt, wie Botschaft einer ganz anderen Welt, die in das Gebrause und in den Graus dieses empirischen Wahnsinns nur zuweilen von Ferne hineintönt. Ihr gilt dann die Strophe des Dichters: „Der Turmuhr grosser voller Stundenschlag hat zu Matrei mich wieder Schlaf gelehrt”. Andererseits aber wäre gar wohl zu bedenken, dass das ursprünglich Öffentlich-Allgemeine, Geburt und Taufe, Hochzeit und Tod, immer mehr jener Sphäre der Diskretion anheimfällt, die alles Privatleben einhegen muss, wenn nicht in wachsenden Grossstädten, wo Menschen wie Ameisen übereinander krabbeln, „Gesellschaft” und „Öffentlichkeit” zur unerträglichen Tyrannei entarten soll. Wäre dem nicht so, dann wären das Ideal jene Glockentürme des Campanella, die in der vollkommen sozialisierten Gesellschaft den Menschen sogar das Zeichen geben sollen, wann es Zeit sei, „in Gott Kinder zu zeugen”, oder wann sie Kunstwerke betrachten oder ihr Tagebuch führen sollen. Man bedenke also wohl, dass gerade der vertieften und innigeren Religiosität der Lebenshaltung das veräusserlichte Symbol und das Ausplaudern aller persönlichsten Ereignisse unkeusch erscheinen muss. Der Glockenschrei gebührt dem nationalen und kommunalen Anlass, nicht dem kleinen, alltäglichen individuellen Leben, das seine Heiligung im Gemüte findet und keiner politischen Sanktion mehr bedarf. Man hänge nicht alles „an die grosse Glocke” und denke: „Die stillsten Worte sind es, welche den Sturm bringen; Gedanken, die mit Taubenfüssen kommen, lenken die Welt.” Welch Widersinn liegt in dem Bemühen, Menschen durch Lautheit zur Erbauung, durch Lärmen zur Einkehr zu bringen! Die Religion verwendet damit zwar nur jene primitiven Mittel der Betäubung, in denen die gleichen Triebkräfte wirken, die auch sie selber seelenmächtig machen. Aber sie verleugnet ihre Entwickelung zu Verfeinerung und Vergeistigung. – Darum hat das Vorgehen jenes Mannes meine Achtung, der in einem Alpendorfe für Gemeinde und Kirchenvorstand eine beträchtliche Geldsumme gestiftet hat, wofür sie sich verpflichteten, im Sommer während seines Dortseins alltags keine Glocken zu läuten. – Schliesslich möchte ich anregen, dass auch der Schlag der Turmuhren eingeschränkt werden möge. Ich sehe nicht ein, warum sie heute, wo auch der Ärmste eine Taschenuhr besitzt, jede Viertelstunde durch einen Schlag andeuten müssen; es würde genügen, wenn sie lediglich die vollen Stunden ausrufen und zwar jeweils durch einen einzigen Schlag, nicht aber etwa durch sechszehn. Der Umstand, dass dies genügt, ist Grund genug dafür, dass es geschehe. –

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Empfohlene Zitierweise:
Theodor Lessing: Der Lärm. J. F. Bergmann, Wiesbaden 1908, Seite 53. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_L%C3%A4rm.pdf/56&oldid=- (Version vom 31.7.2018)