Seite:Der Lärm.pdf/58

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

sondern ist Schmerz. Es ist, wenn es zu leiden gezwungen wird, nichts als ein Haufe hilfloser Qual, die sich in spontanen Ausdrucksbewegungen, so gut das Geschöpf eben vermag, entlastet. Dabei sind die domestizierten Tiere so harmlos, dass der Hund, wie ich es mehrfach gesehen habe, wenn er zu Vivisektionszwecken geknebelt und wehrlos auf einem Drahtgestell daliegt, seinem Peiniger sterbend, mit aufgeschnitztem Leibe, noch die Hand leckt, weil er nicht gleich uns an der Kette kausalen Vorstellens sich im Leiden orientiert und somit auch nicht die Entlastung vom Schmerz besitzt, die uns das Wissen leistet. – Überhaupt würde der Mensch das Lärmen und Schreien der Haustiere mit vollkommen anderem Ohre hören, wenn er verstehen könnte, wie viel Geplagtheit dahintersteckt. Es gibt nichts Zerquälteres und Unglücklicheres als das Tier, und das Gros der Tierwelt ist nur darum hässlich oder bösartig, weil es gehetzt und ewig auf der Lauer ist… Wenn ein kleiner Kanarienhahn im Käfig Tag und Nacht singt, wie haben wir doch so billig, poetische Redensarten zu machen von „Sangeslust und Kunstfreudigkeit der Vögel!” Nichts liegt dahinter als die gehemmte Aktivität seiner angeborenen Natur, des rascheren wärmeren Blutes, der an beständige Bewegung gewohnten verkümmernden oder doch geschwächten Schwinge. Nichts als Drang nach Fliegen, Sichwiegen in Sonne und Laub, unter Seinesgleichen. Das gibt sich nun in Tönen aus! Wir würden sie anders bewerten, wenn an uns verfahren würde, wie wir ihnen tun… Horaz hat in einer Ode geklagt über das Vogelgezwitscher, das in der Frühe seinen Schlummer zerstöre; Platen und andere Dichter haben diese Klage wiederholt. Mit gutem Recht! Aber das sind nun einmal unvermeidliche Übel, denen jeder ausgesetzt ist, der in und mit der Natur lebt und die man tragen muss, wie die Welt uns trägt und uns verbraucht, wie wir eben sind. Das Geschrei der gekäfigten Singvögel dagegen ist eine künstlich gezüchtete Exzentrizität, gleich jenen einseitigen Dressuren des Variété, die man durch endloses Leidenmachen mürbe gequälten Geschöpfen schliesslich einprügeln kann. Ich habe nichts dagegen einzuwenden, dass in Parks und Gärten geräumige Volieren mit schönen, seltenen Vögeln angelegt werden. Es mag auch kleine Blumenstübchen geben, in denen der Kanarienvogel frei umherflattern darf, zur Freude eines Kindes oder eines einsamen Menschen. Auch hat es Verstand, eine „Hecke” anzulegen, in der der Vogel unter Seinesgleichen lebt. Aber nur um des Luxus willen, ohne Liebhaberei, ein Tier in das Bauer mit ein oder zwei Sprossen käfigen und zu sehnsüchtigem Geschrei aufstacheln, das ist roh und verrohend. Der Kanarienvogel aber gehört meist zum obligatorischen „Hausrat”. Er bekommt Körner und Wasser ohne viel Aufmerksamkeit. Er steht in irgend einem Winkel, eine unbeachtete, vereinsamte Existenz, und schreit und schreit, bis dem fühllosen Herrn etwa nicht mehr beliebt, es mit anzuhören und das

Empfohlene Zitierweise:
Theodor Lessing: Der Lärm. J. F. Bergmann, Wiesbaden 1908, Seite 55. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_L%C3%A4rm.pdf/58&oldid=- (Version vom 31.7.2018)