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erstens, dass in Privathäusern (ohne Gewerbeschein oder event. polizeiliche Dispensation) zu bestimmten Ruhestunden vor allem auch am Sonntag- und Feiertagsvormittag überhaupt nicht musiziert werden darf; zweitens, dass für die Dauer des Übens auf weithin tönenden Instrumenten die Fenster der Privatwohnungen zu schliessen sind; widrigenfalls stehe Geldstrafe, Haft und Konfiskation des benutzten Instrumentes zu erwarten. Ferner sollen sich die Hauswirte dahin einigen, dass sämtlichen Mietern in Häusern, die nicht von einer Partei bewohnt werden, nach 9 Uhr abends und vor 9 Uhr morgens das Musizieren schlechterdings verboten wird. Die Sonntagvormittage aber, die für Hunderttausende eine kurze Erholungsfrist bieten, sollten nimmermehr durch das Gelärm der Frühschoppenkonzerte, Biermusiken und Privatklaviere ihrem Zwecke, Sammlung und Ruhe zu gewähren, entzogen werden. Wie die gröberen Organe unseres Leibes durch die staatliche Autorität geschützt werden, wie man die Bevölkerung vor schlechten, verdorbenen oder verfälschten Nahrungsmitteln zu behüten versucht, so sollte auch das zarteste wichtigste Organ, das Ohr, zumal aber das Ohr der Schuljugend vor dem schlechten, verfälschenden, den Geschmack verpöbelnden Musiklärm geschützt werden. Göthe lässt im Wilhelm Meister diejenigen, welche sich der Musik widmen, eine gesonderte „pädagogische Provinz“ bilden, möglichst abgelegen und entfernt von allen anderen. Und in der Tat, es ist nicht einzusehen, warum nicht jede Stadt und jedes Stadtviertel eigene Gebäude für musikalische Studienzwecke, für Klavier- und Gesangsübung besitzen sollte, so wie man in Sanatorien und Kurorten abgelegene Musikzimmer herstellt, wohin sich diejenigen, die singen und spielen oder dem Spiel und Gesang zuhören wollen, zurückziehen mögen…

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„Musik wird oft nicht schön gefunden,
Zumal sie mit Geräusch verbunden.“[WS 1]

Eine grauenhafte Unsitte grassiert in ganz Deutschland: das allgemeine Restaurant- und Kaffeehauskonzert. Wer auf das Wohlwollen seiner Mitmenschen angewiesen ist, musikalische Ohren besitzt und sich nicht „aus dem Erwerbsleben zurückziehen“ kann, der wird durch Musik, in der alle Welt ihre Nöte und Sorgen übertäubt, fast zu Tode gemetzgert. Jede Arbeit in Fabrikhöllen und Schwitzschachten wird von rhytmisiertem Lärme begleitet. Aber auch alle Erholungsstätten sind von schlechter Musik überfüllt. Der jeweilige Gassenhauer, heute das „Lied von der Holzauktion“, morgen die Matschiche, verfolgt uns bis in die Träume der Nacht. Die allgemeine Musikwut übt auf die Kultur des Ohres die selbe Wirkung, die das illustrierte Journal, das „Witzblatt“ und die kitschige Reproduktion auf die Kultur des Auges übt. Man lebt im Hören und Sehen gleich wüst und unkultiviert… Was aber nützt es

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Zwei Verse von Wilhelm Busch
Empfohlene Zitierweise:
Theodor Lessing: Der Lärm. J. F. Bergmann, Wiesbaden 1908, Seite 69. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_L%C3%A4rm.pdf/72&oldid=- (Version vom 10.11.2018)