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dagegen streiten, bald in Mitleid, bald in Ekel? – Rücksicht heisst Schwäche. Güte heisst Ohnmacht. Der eine überschreit immer den andern.

Mit nichts pflegt der Normalmensch verschwenderischer umzugehen, als mit der Aufmerksamkeit und Zeit seiner Mitmenschen. Wenn man zu einem Besuche, einer Gesellschaft mich veranlasst, bei der man mir nichts vorzusetzen hat als Nervengifte, die meine Fähigkeiten lähmen, Speisen, die ich nicht vertrage, Gespräche und Unterhaltungen, die Zeit und Aufmerksamkeit rauben, ohne mich im mindesten zu erfreuen und zu fördern, begeht man da nicht an meinem Lebenswerk ein Verbrechen? Wie edel könnte doch Geselligkeit sein, wenn Menschen sich nur füreinander verantwortlich fühlten, wenn es sich um etwas Besseres handelte, als um die Übereinkunft, den grösseren Teil des Lebens müssig, bequem und ohne Anstrengung miteinander zu vertrödeln. Sobald man aber beisammen sitzt und der übliche Klatsch und Tratsch erschöpft ist, stürzt irgendjemand ans Klavier, ohne zu fragen, ob man Musik hören mag, ob man seine Musik hören mag. Man sollte jedem geselligen Zusammensein, sollte auch allem Musizieren einen positiven, methodischen Inhalt geben. – Hat uns aber einer durchaus und ganz und gar nichts mitzuteilen, was fördern und erfreuen kann, dann soll er wenigstens zuzuhören und zu lernen verstehn… Von Kant, Fechner, Lotze, Darwin wird uns ausdrücklich berichtet, dass sie tief schweigsame Naturen waren. Wer aber kann sich wundern, dass Lebewesen, die gar nichts in der Seele tragen als spezifische Futtertrog- und Familieninteressen wie die Mühlen klappern, dass sie im Lärme leben wie der Fisch im Wasser und selbst die hehre Musik zur „Unterhaltung” entweihten, sie, die keine Stubentür schweigend zu schliessen vermögen…

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Alle der widerwärtige Musiklärm bewährt nun einen eigentümlichen Untergrund. Er verbirgt eine merkwürdige Beziehung zu des Menschen erotischen Erfahrungen. – Zunächst scheint mir, dass die Produktivität in der Musik ebenso in der aktiven Geschlechtlichkeit verwurzelt ist, wie das verfeinerte Verständnis für Musik einer Transformierung und instinktiven Gebundenheit erotischer Impulse zu entsprechen pflegt. Man darf getrost behaupten, dass hinter einem grossen Teile des Musiklärms, der täglich vollführt wird, ganz wie hinter dem Gesange der Vögel, erotische Verwebungen und Verwickelungen, das Einandersuchen und Fliehen der Geschlechter im Verborgenen lauert. Diesen Gesichtspunkt müssen wir zunächst für die Erklärung der ungleichen musikalischen Anlagen von Frau und Mann wohl im Auge behalten. Die oft betonte Unfähigkeit der Frauen zur Komposition, d. h. zur „Produktivität” in der Musik und ihre doch gleichzeitig wirksame,

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Theodor Lessing: Der Lärm. J. F. Bergmann, Wiesbaden 1908, Seite 70. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_L%C3%A4rm.pdf/73&oldid=- (Version vom 18.7.2022)