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gründen können. Sie müssen die Lichtkraft des Verstandes, die Helligkeit[WS 1] des Wissens ebenso fliehen, wie sie sich an der dunklen Schwüle des „Gemütes” zu entzünden pflegen. Dieses gerade kennzeichnet sie als Antagonisten jener intellektuellen Energieen, die alle Wärme des Lebens gefrieren, ja vergletschern machen und zuletzt nichts übrig lassen als nur die eine weisse, kalte Flamme des „Bewusstseins”.… Alle die Gewalten „reinen Gefühls“ werden somit vor allem in religiösen Erlebnissen zentriert sein. Denn „Religion” ist die Macht, welche Gefühle, Stimmungen, Impulse des Menschen am radikalsten von ihren natürlichen Verwebungen mit aktuellen Interessen und faktischen, empirischen Elementen des Alltags ablöst. In ihr stellt die Seele ihr persönlichstes Hoffen, Streben, Lieben und Verlangen nackt und unvertrübt gleichsam in ein objektiveres Wertbereich hinüber. In ihr spiegelt sich das Ich befreit von Tatsächlichkeit und Empirie. In ihr werden alle realen Inhalte vom tragenden Weltgefühl, von der kosmischen Lebensstimmung abgestreift. Nur dieses Weltgefühl, nur diese Lebensstimung selber ergreift sich in mytischen Bildern oder beziehungreichen, Vieles erregenden Symbolen. Alle grossen Leitmotive, die im aktuellen Leben eingebettet liegen, werden damit aus ihren zahllosen praktischen Vertrübungen hervorgeholt. Sie werden in einem überempirischen, „transzendenten” Bereiche gesammelt, um von ihm aus, rückstrahlend, allem faktischen Leben Heiligung und Weihe zu verleihn. Alle Hoffnung ist hier nichts als Hoffnung. Alle Liebe ist hier nichts als Liebe. Alle Angst, alle Sehnsucht, alles in der Wirklichkeit stets unerfüllte, verkümmernde, unerfüllbare Streben blüht sich hier aus und findet ein Ziel, jenseits jedes bestimmten Zieles.… Diese Emanzipation der „rückwärts bindenden“ Mächte des Gemütes von allen den rationalen, korrigierenden, beständig umformenden Störungen seitens der Wirklichkeit gibt der Religion ihre eigentümliche Sonderstellung unter allen Gewalten des Lebens. – Nur eine einzige Lebensmacht kommt ihr gleich, ja übertrifft die religiöse an Absolutheit und Selbstherrlichkeit der Gefühlsbefriedigung, nämlich die Kunst; als die kontemplativ einfühlende, zwecklos-betrachtende, ästhetische Stellungnahme zu den bunten empirischen Dingen dieser „Welt”. Und innerhalb dieses ästhetisch–betrachtenden Erlebens der „Welt” ist es wiederum die Musik, die am innigsten der religiösen Erlebensform verwandt, am rücksichtslosesten von allen faktischen und zweckvollen Bestimmtheiten der Wirklichkeit gelöst ist. Denn auch Musik ist, wie Religion, eine alogische, irrationale, gefühlsmässig-unmittelbare Lebensmacht. Sie hat, genau wie die Religion, das bunte Narrenkleid des wirklichen Lebens von sich gestreift. Sie bietet nie etwas Bestimmtes, Einzelnes, Glatt-Umschreibbares. Sondern in ihr reduplizieren sich alle die tragenden Grunderlebnisse der Seele; all ihr Fluten und Ebben, Gehemmtsein

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Hellig-
Empfohlene Zitierweise:
Theodor Lessing: Der Lärm. J. F. Bergmann, Wiesbaden 1908, Seite 5. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_L%C3%A4rm.pdf/8&oldid=- (Version vom 31.7.2018)