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30. April 1904, 126/04 V) offenbar allzu ausschliesslich an den deutschen Juristen der Gegenwart gedacht. – „Normale Durchschnittsmenschen, die hinter geschlossenen Fenstern schlafen!“


4.
Die „Ortsüblichkeit” (§ 906).

Wenn der Begriff des „normalen Durchschnittsmenschen”, heller Unsinn ist, so ist der zweite Begriff, auf den sich die Anwendung des § 906 bezieht, der Begriff der „Ortsüblichkeit” noch alberner. – In diesem Begriffe laufen nämlich verschiedene Definitionen durcheinander. Man denkt bei dem Worte „Ortsüblichkeit” einmal an: „Zum Wesen der Sache gehörig.” – Man denkt ein anderes Mal an die „gewohnheitsmässige Gepflogenheit der betreffenden Örtlichkeit.” Dies zeigt z. B. eine urkomische Verhandlung vor Stuttgarter Gerichten, die vor dem Reichsgericht schliesslich zum Austrag kam[1]. Hier klagt jemand, weil sein Grundstück durch den nächtlichen Lärm einer Kegelbahn entwertet werde. In den Urteilsbegründungen kommt die volle Ratlosigkeit der Richter zum Ausdruck. Zunächst wird die Klage abgewiesen mit der Begründung, dass das betreffende Haus in einem Stadtteil liege, wo die Anlage von Kegelbahnen durchaus „ortsüblich” sei. Dies zeige sich daran, dass sich in dem Stadtteil noch drei andere Kegelbahnen befänden. Dagegen macht die Berufungsinstanz jedoch geltend, dass diese Auslegung des Begriffs der Ortsüblichkeit ganz verkehrt sei. Die „Ortsüblichkeit im allgemeinen” käme nur dann in Betracht, wenn gesagt werden könne, dass in der ganzen Stadt oder wenigstens in dem ganzen betreffenden Stadtteil die Benutzung der Grundstücke zur Anlage von Kegelbahnen „die gewöhnliche” sei. Dies aber sei ja doch in Stuttgart nicht der Fall. – Zuguterletzt aber entscheidet das Reichsgericht die Sache sozusagen in der Negative: „eine Ortsunzulässigkeit ist dann als gegeben zu erachten, wenn das betreffende Viertel, wo sich die Kegelbahn befindet, ein ‚herrschaftliches Villenviertel ist’”. (Also ein Viertel, wo reiche Leute wohnen, die ohnehin weniger hygienischen Rechtsschutz nötig haben). Dieses alles ist natürlich heiterster Juristenunsinn. Denn was kann aus diesem Entscheide folgen? Doch wohl nur, dass dort wo eine Kegelbahn lärmt, auch 27 Kegelbahnen lärmen dürfen, wo aber bisher noch kein Gastwirt Konzessionen erhielt, da soll auch künftig keiner Konzessionen erhalten.


  1. Juristische Wochenschrift XXXIII, S. 175.
Empfohlene Zitierweise:
Theodor Lessing: Der Lärm. J. F. Bergmann, Wiesbaden 1908, Seite 79. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_L%C3%A4rm.pdf/82&oldid=- (Version vom 31.7.2018)