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(Seuff. A., Bd. 45, Nr. 240). Die jüdische Gemeinde in Halle a. S. hatte seit 50 Jahren ihren Tempel auf einem Grundstück stehen, dessen Besitzer neuerdings eine Böttcherei anlegte. Dadurch wird die Benutzung des Tempels unmöglich, der Gottesdienst wesentlich gestört. Die Gemeinde klagt auf Untersagung des Lärmens. Der Kläger erwidert, dass die Gemeinde beim Bau der Synagoge dafür habe Sorge tragen müssen, dass der Gottesdienst nicht durch Lärm gestört werden könne. Daher sei sie selber an der Störung schuld. Die erste Instanz verurteilt den Besitzer der Böttcherei. Die Berufungsinstanz spricht ihn frei. Das Reichsgericht entscheidet im Sinne der Berufungsinstanz. In der Begründung heisst es zunächst, dass in der Tat „nicht bloss die Immission körperlicher Stoffe, sondern auch die Erregung von Lärm, wenn das Mass des Erträglichen und Gemeinüblichen überschritten wird, zur Anstellung der Negatorienklage berechtigen kann.” Wo aber „das Mass des Erträglichen und Gemeinüblichen” eigentlich liege, sagt das Reichsgericht nicht[1]. Dann aber heisst es weiterhin: „Wer grösserer Ruhe bedarf als gewöhnlich ist und als ihm durch die aus dem Zusammenleben mit anderen Menschen fliessenden gemeinüblichen Störungen gewährt wird, hat selber für die Befriedigung dieses aussergewöhnlichen Bedürfnisses zu sorgen und kann nicht verlangen, dass seine Nachbarn sich in dem Recht auf die gemeinübliche Nutzung ihres Eigentums Schranken auferlegen.” – Ein schlimmeres Armutszeugnis als die Berufung auf „Gewöhnlichkeit” und „Gemeinüblichkeit“ darstellt, kann sich die oberste Rechtsinstanz nicht ausstellen. Sie soll ja ihrerseits erst normieren, was „gemeinüblich“ werden soll. Sie kann also nicht, während sie ethische Normen durchzusetzen hat, diese Normen wiederum auf die gegebene Tatsache gründen! Das wäre eben ein verschleierter Rechtsbankrott. – Und was ist denn schliesslich „gewöhnlich” und „gemeinüblich”? Der Lärm, der etwa in Berlin auf der Friedrichstrasse als „gemeinübliche Störung” zu legitimieren wäre, kann doch nicht bei Abhaltung eines Gottesdienstes als „gemeinüblich“ hinzunehmen sein…

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Dass nun in der Tat das ganze Gerede von „gemeinüblich”, „normal”, „wesenszugehörig” und „gewöhnlich” von Fall zu Fall eine immer wieder wechselnde Ausdeutung zulässt, zeigen alle Negatorienklagen wider Lärm, so viele das Reichsgericht bisher zu entscheiden hatte. Einmal wurde vom Reichsgericht sogar zugegeben, „dass auch das Bedürfnis nervöser Personen zu berücksichtigen sei” (Seu. 52, 146). Ein anderes Mal wurde der Eisenbahnfiskus auf Schadenersatz verurteilt, weil ein Grundstück durch den Lärm entwertet wurde, den die Züge


  1. Gruchot, Bd. 27, K. 905. Seuffert, Bd. 38, Fall Nr. 7.
Empfohlene Zitierweise:
Theodor Lessing: Der Lärm. J. F. Bergmann, Wiesbaden 1908, Seite 89. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_L%C3%A4rm.pdf/92&oldid=- (Version vom 31.7.2018)