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Obwohl die Repräsentanten derselben aus allen Teilen des Reiches gewählt werden, so ist sie doch im wesentlichen nur eine Vertretung der besitzenden Klassen von Konstantinopel. Von ihren 160 Mitgliedern sind ordnungsmäßig 120 Vertreter der Hauptstadt und 40 Vertreter der Provinz. Aber auch diese 40 Provinzvertreter werden wegen der Schwierigkeit der Reiseverbindung mit dem Innern aus der Zahl der Konstantinopeler Intellektuellen gewählt. Der Charakter des Patriarchats mit seiner kirchlichen Organisation und ebenso der Charakter einer derartig zusammengesetzten Nationalversammlung ist naturgemäß konservativ. Wenn von seiten armenischer Politiker an der Haltung des Patriarchats und der Nationalversammlung Kritik geübt wurde, so lag dieselbe immer in der Richtung, daß die Patriarchen mehr den Charakter von osmanischen Staatsbeamten als von Vertretern der Nation trügen und daß die Nationalversammlung, auch wo es sich um wichtige Interessen des armenischen Millets handelte, zu fügsam und nachgiebig gegenüber dem herrschenden Regime wäre. Der gegenwärtige Inhaber des Patriarchats-Stuhles war vor seiner Erwählung Bischof in Diarbekir und als ein trefflicher Seelsorger seines Sprengels bekannt. Er war anderen Kandidaten, die eine schärfere politische Physiognomie hatten, vorgezogen worden, da man für die Friedensära nach dem Balkankriege mehr an die kirchlichen, als an die politischen Aufgaben des Patriarchats dachte. Msgr. Sawen ist seinem ganzen Charakter nach von dem Typus eines politischen Intriganten so fern als nur möglich. Er hat schwer unter dem Schicksal, das seine Nation und seine Kirche traf, gelitten, ist aber niemals auch nur auf den Gedanken gekommen, etwas wie einen Widerstand gegen die Regierungsgewalt zu planen. Er hat alle in seiner Kompetenz liegenden Schritte getan, hat die unglückliche Lage seines Volkes während des Krieges den Ministern solange in ernsten Bitten und Beschwerden vorgetragen, bis sich die Türen vor ihm verschlossen und er sich von der

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Johannes Lepsius: Der Todesgang des armenischen Volkes. Tempelverlag, Potsdam 1919, Seite 171. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_Todesgang_des_armenischen_Volkes.pdf/206&oldid=- (Version vom 31.7.2018)