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sich auf den Straßen. Man war im Rausch des Entzückens über die gewonnene Freiheit „ein einig Volk von Brüdern“ geworden. In Konstantinopel zog eine Prozession von türkischen Notabeln, Mollahs und Hodschas mit den Armeniern in die armenische Kirche der Dreieinigkeit, um dort große Reden zu schwingen und die armenischen Opfer der Verfolgungen Abdul Hamids zu beklagen. Die Türken sagten zu den Armeniern: „Ihr seid glücklich zu preisen, ihr wißt, wo eure von Abdul Hamid hingeschlachteten Opfer begraben sind; die unsrigen aber liegen auf dem Meeresgrunde oder sind in den Wüsten Arabiens verschwunden. Wir wollen mit euch auf euren Friedhof gehen und an den Gräbern eurer Toten, an deren Blut wir unschuldig sind, den Sieg der Freiheit feiern. Kommt ihr mit uns, um auf dem Befreiungshügel den Tag unserer Erlösung festlich zu begehen.“ So geschah es. Das Einvernehmen zwischen Christen und Moslems, Armeniern und Türken konnte nicht inniger sein, und alle Welt glaubte an eine glückliche Zukunft des Reiches.

Die jungtürkischen Führer hielten sich nicht an ihre Versprechungen. Abdul Hamid blieb auf dem Thron. Erst ein Jahr später mußte nach dem vorübergehenden Sieg der Reaktion die Absetzung Abdul Hamids nachgeholt werden. In den April 1909 fiel auch das Massaker von Adana, bei dem unter Mitwirkung von jungtürkischen Truppen 20 000 Armenier umgebracht wurden. Ein schlimmes Vorzeichen! Das Komitee für Einheit und Fortschritt hatte die früheren Zusagen seiner Führer, die die Gleichberechtigung der Nationalitäten und Religionen verbürgten, vergessen. Es wandte sich schnell einem panislamischen Programm zu, in der Hoffnung, so die türkischen Massen zu gewinnen und die reaktionäre Propaganda aus dem Felde zu schlagen. Trotzdem blieben die Daschnakzagan an der Seite der Jungtürken und hielten ihr politisches Zusammengehen mit dem Komitee für Einheit und Fortschritt aufrecht. In der Zeit ihrer gemeinsamen Verbannung

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Johannes Lepsius: Der Todesgang des armenischen Volkes. Tempelverlag, Potsdam 1919, Seite 175. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_Todesgang_des_armenischen_Volkes.pdf/210&oldid=- (Version vom 31.7.2018)