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eine Regierung beschieden sei, die die Grundsätze bürgerlicher Freiheit und Gleichheit vor dem Gesetze der aus tausend Wunden blutenden Bevölkerung des türkischen Reiches zugute kommen lassen würde. Es ist nicht zu bezweifeln, daß das Komitee für Einheit und Fortschritt, das damals die politische Macht in Händen hatte, die Absicht gehabt hat, sich von den Grundsätzen europäischer Zivilisation und staatlicher Gerechtigkeit in der Reorganisation des Reiches leiten zu lassen. Ein Freiheitsrausch ergriff alle Teile der Bevölkerung, als die Jungtürken die Verfassung proklamierten. Aber schon die Reaktion vom April 1909, die mit einem Schlage die führenden Männer aus den leitenden Stellungen verdrängte und der ganzen Konstitution den Garaus zu machen schien, führte den Beweis, daß einflußreiche Elemente noch zum alten Regime hielten oder mindestens der Einführung europäischer Grundsätze in das türkische Verfassungsleben widerstrebten. Außer den Kreaturen des Hamidischen Regiments waren es vor allem die geistlichen Führer des Volkes, die Ulemas, Chodschas und Softas, welche das unwissende Volk gegen die europäischen Neuerungen aufzureizen versuchten.

Als durch den Marsch der mazedonischen Truppen gegen Konstantinopel die Jungtürken sich wieder der Herrschaft bemächtigt und Sultan Abdul Hamid abgesetzt hatten, lenkte das Komitee für Einheit und Fortschritt mehr und mehr wieder in die Bahnen der Politik Abdul Hamids ein. Zunächst wurde eine rigorose Parteiherrschaft durchgesetzt. Eine Nebenregierung bekam den offiziellen Verwaltungsapparat in die Hand, und die Wahlen büßten den Charakter der Freiwilligkeit ein. Die Berufung der höchsten Beamten des Reiches und aller wichtigsten Verwaltungsstellen wurde durch Beschlüsse des Komitees geregelt. Alle Gesetzesanträge wurden vom Komitee durchberaten und genehmigt, ehe sie vor die Kammer kamen. Das Regierungsprogramm wurde durch zwei leitende Gesichtspunkte bestimmt. 1. Der zentralistische Gedanke, der der

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Johannes Lepsius: Der Todesgang des armenischen Volkes. Tempelverlag, Potsdam 1919, Seite 218. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_Todesgang_des_armenischen_Volkes.pdf/253&oldid=- (Version vom 31.7.2018)