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abzutun. Neben mir wurden zwei Priester getötet, der aus Terdjan stammende Ter-Wahan und der über 90 Jahre alte Ter-Michael. Die Banditen ergriffen alle gutaussehenden Frauen und Mädchen und entführten sie auf ihren Pferden. Sehr viele Frauen und Mädchen wurden so in die Berge geschleppt, unter ihnen meine Schwester, deren ein Jahr altes Kindchen sie fortwarfen. Ein Türke hob es auf und nahm es mit, wohin, weiß ich nicht. Meine Mutter lief, bis sie nicht mehr laufen konnte. Am Wegrand auf einer Höhe brach sie zusammen. Wir fanden auf der Straße viele von denen, die in den früheren Trupps von Baiburt fortgeführt worden waren. Unter den Getöteten lagen einige Frauen bei ihren Männern und Söhnen. Auch alten Leuten und kleinen Kindern begegneten wir, die noch am Leben waren, aber in jammervollem Zustande. Von vielem Weinen hatten sie die Stimme verloren.

Wir durften nachts nicht in den Dörfern schlafen, sondern mußten uns außerhalb derselben auf der bloßen Erde niederlegen. Um ihren Hunger zu stillen, sah ich die Leute Gras essen. Im Schutze der Nacht wurde von den Gendarmen, Banditen und Dorfbewohnern Unsagbares verübt. Viele unserer Genossen starben vor Hunger und durch Schlaganfälle. Andere blieben am Wegrande liegen, zu schwach, um weiter gehen zu können.

Eines Morgens sahen wir 50 bis 60 Wagen mit 30 türkischen Witwen, deren Männer im Kriege gefallen waren, die von Erzerum kamen und nach Konstantinopel fuhren. Eine dieser Frauen gab einem Gendarmen einen Wink und zeigte auf einen Armenier, den er töten solle. Der Gendarm fragte, ob sie ihn nicht selbst töten wolle, worauf sie antwortete: Warum nicht? Sie zog einen Revolver aus der Tasche und erschoß ihn. Jede dieser türkischen Frauen hatte 5 oder 6 armenische Mädchen von 10 Jahren oder darunter bei sich. Knaben wollten die Türken niemals nehmen; sie töteten alle, und zwar jeden Alters. Diese Frauen wollten mir auch meine Tochter nehmen, aber sie

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Johannes Lepsius: Der Todesgang des armenischen Volkes. Tempelverlag, Potsdam 1919, Seite 49. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_Todesgang_des_armenischen_Volkes.pdf/84&oldid=- (Version vom 31.7.2018)